laut.de-Kritik

Gender-Euphoria im Cyberpunk-Dystopia.

Review von

Wenn wir Arcas Geschichte erzählen wollen, suchen wir oft nach Parallelen. Ein bisschen ist sie ja wie Aphex Twin, weil beide die Abgründe des elektronischen Genres ausloten. Ein bisschen ist sie auch wie Björk, nicht nur, weil sie zusammenarbeiten, sondern weil sie auch beide jedes neue Album als eigene Ära im eigenen Universum mit eigener Logik und eigenem Look begreifen. Ganz besonders ähnelt sie SOPHIE, denn ihre beiden Geschichten handeln vom Ans-Licht-Treten einer visionären Untergrund-Produzentin, als Gesicht der Musik, als ihre eigene Definition eines Star, als Frau.

Keiner von diesen Vergleichen mag falsch sein, aber sie nähern sich halt nur an. Denn auch, wenn Arca bislang nicht den selben Legenden-Status erreichte, hat sie doch schon lange bewiesen, dass sie nicht unter "ferner liefen" gehört. Und die jetzige Ära beweist das: Drei Alben in drei Tagen, und auf jedem weiteren Ableger der "Kick"-Serie mutiert sie ihren Sound weiter. Dieses Mal nicht nur ins Extremere, sondern auch ins Rundere. "Kick III" im Besonderen fühlt sich wie die Kernthese ihrer bisherigen Laufbahn an. Hier fusioniert sie Musik als Ausdruck und Worldbuilding, und die beiden Funktionen komplimentieren sich.

Fangen wir mit dem Aspekt des Worldbuildings an: Diesen Begriff hört man ja im musikalischen Kontext eher selten, aber Arca war eine Meisterin darin, ihre Soundpools und Stimmungsbilder so aufeinander abzustimmen, dass sie eine sehr spezifische Welt heraufbeschwören. "Kick III" zitiert diese finstere, synthetische Latex-Ästhetik, die sie auf "Xen" oder "Mutant" eingeführt hat. Songs wie "Incendio" verweben Percussion, die wie das Mahlen von futuristischer Schwerindustrie klingen, mit robotisch manipulierter Stimme und Synth-Echos wie dem Rauschen der Datenautobahn.

Kein Wunder, dass sie dieses Mal so in die Cover-Ästhetik investiert hat, denn die immer absurder und grenzüberschreitend wirkenden Cyberpunk-Illustrationen lassen sich auf diesem Album nahtlos ansiedeln. Jedes Element, vom Sound-Design über die Bilder bis zur Atmosphäre schafft mehr Rahmenbedingungen zur atmosphärischen Wirklichkeit dieser Platte, die in den kleinen Entscheidungen des Songwritings überraschend viele Feinheiten bietet. Die leisen Ambient-Einschübe auf "Skullqueen" zum Beispiel, die sie auf "Kick IIIII" weiter erkundet, die perkussive Komplexizität von "Rubberneck", auf die sie fast in Skat-Gesang ausbricht.

Und das liefert die Grundlage für die Ausdrucks-Ebene dieses Albums. Denn im Gegensatz zu "Xen" und "Mutant", die ihre Künstlerin hinter der schroffen Klangwelt verbergen, stellt sie sich hier als Popstar nach ganz eigener Fasson in den Vordergrund. Gut möglich, dass die Club-Banger aufs erste Hören quasi in offener Sicht versteckt sind. Aber immer wieder brechen die schweren Noise-Elemente auf und Reggaeton-Rhythmen betreten die Landschaft, Techno-Beats, mal schwere, mal leichtfüßige Electronica. Und unter der finsteren Fassade wird "Kick III" wahnsinnig tanzbar, zum Beispiel auf "Electra Rex" oder "Skullqueen". Da agiert Arca nicht als DJ, sondern als Performerin, als unwirklicher Popstar ihrer eigenen Paralleldimension.

Heraus kommen ein paar der eingängigsten Songs, die sie je gemacht hat. "Fiera" zum Beispiel bricht von der ersten Note an in eine so erschütternde Euphorie aus, die Kick schlägt wie ein Herz ans Jochbein, die Synthesizer recken sich in ihrer verzerrten Unförmigkeit zu einer energetischen Melodie auf – der Song praktiziert Gender-Euphorie für die letzte halbe Stunde Dancefloor vor dem Sonnenaufgang. Auf dem Opener "Bruja" agiert Arca als MC, wie die Reggaeton-Seelenverwandte von Princess Nokia oder Shygirl, mit einem magnetischen Charisma.

Das sind die Momente, in denen man auch die Progression zu alten Platten spürt. Auf ihre Weise waren die alle schon geil, radikal und prägend, aber in ihrer Fokussierung auf einen Effekt haben sie sich in sich selbst verschanzt. Hier kommen die besten Stellen zusammen, die Wut zur Performance von "KLK", die komplette klangliche Eigenwilligkeit von "Mutant" und die kompositorischen Bewegungs-Ideen von "Xen". Die Songs sind surreale, atmende Motive, die in ihren Lovecraft-schen Formen die Form von Popsongs andeuten. "Pity the fool, pity the fool", singt sie auf "Intimate Flesh", als wolle sie sich über die vergebene Liebesmüh lustig machen, die sie leistet. Es gibt nämlich kein Verstehen dieser Musik, kein "das verstehe ich", kein "das verstehe ich aber nicht", es ist einfach nur eine offene und verwundbare Darbietung von Arcas Jetztzustand. Von der Energie und dem Triumph, dass Arca 2021 nicht nur existiert, sondern blüht.

Aber all die Energie, all der Triumph, er ist unter einem Schleier versteckt. Ein Schleier aus Sprachbarrieren, aus sperriger Musik. Arca hatte im Gegensatz zu all ihren Vergleichspunkten nie den Anspruch, auf uns zuzugehen. Sie hatte nie die Absicht, ein Star in unserer Welt zu sein. Deswegen muss man den Willen zur Grenzüberschreitung ein bisschen zu ihr tragen, denn erst, wenn man sich auf ihren Boden begibt, ihrer musikalischen Logik folgt und gemeinsam die Barriere erodiert, merkt man: Arca ist das, was Aphex Twin in den Neunzigern war, was Eliane Radique in den Siebzigern war, was sie vor ein paar Jahren noch mit Sophie geteilt hat. Sie ist der verdammte brodelnde Nexus der musikalischen Progressivität, auf dem letzten Ende des Extremitäts-Spektrum. Sie wird ihr Ding machen – und jetzt gerade können wir nur zusehen und warten, bis die nächste große Produzenten-Generation uns ins zehn Jahren erklärt, was hier gerade wirklich passiert.

Trackliste

  1. 1. Bruja
  2. 2. Incendio
  3. 3. Morbo
  4. 4. Fiera
  5. 5. Skullqueen
  6. 6. Electra Rex
  7. 7. Ripples
  8. 8. Rubberneck
  9. 9. Senorita
  10. 10. My 2
  11. 11. Intimate Flesh
  12. 12. Joya

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3 Kommentare mit 6 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    Ich bekomme das häufiger bei Spotify vorgeschlagen, weil ich auch gerne experimentelle Musik höre. Ein user auf Discogs hat's aber zu einem älteren Album besser zusammengefasst als ich könnte: "I have the impression that sometimes music is left aside at the expense of image, or shock or any other value, people get mindblowed by what it is not supposed to be the main ingredient in an album. This happens in here, pretty much overrated, and I think the praise comes more assented in shock value and sexual identifications not music per se."
    Was mehr als nur ein bisschen stimmt. Man hört, dass sich bei der Produktion der Musik Mühe gegeben wurde aber so transgressiv und außergewöhnlich, wie sie hier präsentiert wird, ist sie tatsächlich nicht. Sie ist sogar stellenweise erstaunlich linear für Musik, die brüchig und aufrüttelnd sein will.

  • Vor 2 Jahren

    Ehrlich gesagt check ich den Sophie-Hype nicht. Und werd ihn wahrscheinlich auch nie verstehen. Muss man dafür hyper woke und ultra queer sein, um das zu checken?

    • Vor 2 Jahren

      Im Grunde ja. Das ist halt Musik, die so im Internet und Multimedia Bereich verquickt ist, dass das Ganze drumherum praktisch Teil des Produkts ist. Mag ich persönlich nicht besonders aber ist für Leute, die mit dem Internet aufgewachsen sind, irgendwie auch nachvollziehbar.

    • Vor 2 Jahren

      Ist einfach mordsfett und innovativ produziert, was sie da angestellt hat. Da waren auch ganz gute Songs auf der Platte. Hat kaum was zu tun mit absichtlich mies klingendem Hyperpop, der heute en vogue ist.

      Mich interessieren ihr Image und ihre Identität einfach mal null. Langweilig. Wenn man das nicht ausklammern kann wegen "zu woke" (*seufz*), dann ist ja logo, daß Zuhören schwierig ist.

    • Vor 2 Jahren

      Nope so war das wirklich nicht gemeint. Ich hab mich wirklich ganz ernsthaft gefragt, wie sich der Hype erklären lässt, weil ich außer ihrer Musik das ganze Drumherum nicht kenne. Und es einfach nicht verstehe. Die Musik ist maximal nett. Ich höre da die Genialität einfach nicht. Deshalb erscheint mir Xc's Erklärungsansatz schon plausibel.

    • Vor 2 Jahren

      Von Hörern oder Rezensenten zu verlangen, den Kontext oder den Künstler bzw. die Kunstfigur auszuklammern ist auch ein wenig kontraproduktiv, weil das ja irgendwie immer eine Rolle spielt. Wenn man z. B. an die Lebensrealität von Rappern denkt, die auch künstlerisch ihre Interessen vertreten, kann man jetzt auch nur schwer sagen "Jau, die politische Situation afroamerikanischer Menschen müssen wir mal ausklammern der Musik wegen".

      Und Popmusik ist immer schon Musik + Inszenierung gewesen. Hyperpop hat da das Programm nochmal damit härter zu übertreiben. Müsste man mal einen Gegenentwurf namens Hypopop mit sehr minimalistischer Musik und Coverbildern, die vielleicht nur aus Balken und Farben bestehen. Sowas wie Bedroom-Pop nur mit noch weniger.

    • Vor 2 Jahren

      @Coolertyp
      Wie ich schon im anderen Thread meinte - im Rap gibt es heute Authentizitätsdiskussionen schon lange nicht mehr. Ein bisschen mehr Ausklammern der Person täte Musikrezensenten schon gut - dass Prodigy und Ice Cube beides Einserschüler und Studenten an Kunstcolleges waren, mindert den Wert ihrer Musik ja nicht. Wenn sie es wären, würde es ihr aber auch nichts hinzufügen. Ich ziehe Mobb Deep Xatar vor, obwohl letzterer sehr viel "echter" in seiner kriminellen Karriere ist.

  • Vor 2 Jahren

    Kick I fand ich schon relativ genial ehrlich gesagt. Ich würde auch jedem anraten erst die zu hören und sich dann ein Urteil zu bilden. Der Berg an Material (immerhin releaste sie innerhalb einer Woche 4 weitere Teile), der jetzt vor uns liegt hat mit diesem Album auf jeden Fall einen gesunden Höhepunkt, weil da alle Songs sehr gelungen sind. Die anderen wiederum haben schon mehr Skip-Material, aber immerhin einen roten Faden. "Incendio" ist sowieso die beste Rap Performance in diesem Jahr. Punkt.