laut.de-Kritik

Mit alten Bildern die Zukunft schwarzmalen.

Review von

Tief im Herzen, hinter dem Dickicht aus experimentellen Blips und Bloops und den sozialpolitischen Texten sind Clipping einfach nur drei waschechte Nerds. Es scheint nicht weit hergeholt, dass einem jedes einzelne der drei Mitglieder aus dem Stand einen Essay zu einem obskuren, vergessene Meisterwerk der Horrorfilmgeschichte aus dem Ärmel schüttelt, oder einem ausschweifend das Ohr abkaut, wieso irgendein Dude in den 30ern den Grundstein für moderne elektronische Musik legte, indem er sich ein Stromkabel in den Bauchnabel bohrte.

Insofern kommt es auch nicht überraschend, dass ihre Abkehr vom Horrorcore, den sie mit ihren letzten beiden Projekten einmal durch den digitalen Fleischwolf drehten, automatisch mit der Zuwendung zu einem weiteren nicht minder nerdigen Thema einhergeht: Cyberpunk. Zumindest sagt das so das Promomaterial. Dabei hat "Dead Channel Sky" weniger mit dem Cyberpunk zu tun, den man heutzutage eher mit Keanu Reeves, Neonfarben und Catboys auf Motorrädern assoziiert, und mehr mit der Zweiklassengesellschaft eines Blade Runner oder der digitalen Dystopie, die sich hinter unseren Instagram-Feeds versteckt.

Musikalisch führt sie das raus aus ihrem muffigen Highbrow-Kopfkino und mitten hinein in den Untergrund der 90er. Die Instrumentals von "Dead Channel Sky" fallen vielschichtig aus, lassen sich aber am ehesten auf das herunterbrechen, was in der elektronischen Szene um die Milleniumswende geschah. Auf "Keep Pushing" geben sich Trip Hop und Acid House die Klinke in die Hand, auf "Run It" Techno und Industrial. Woanders hört man unorthodoxe IDM-Glichtes und scheppernde Rave-Rhythmen. "Change The Channel" tönt etwa, als hätten Prodigy den Soundtrack für eine Hacker-Montage geschrieben, und "Dominator" wie eine Verfolgungsjagd durch einen Nachtclub voller schwitzender Körper. Und natürlich finden sich inmitten all dessen auch wieder reichlich experimentelle Momente, in denen einem für ein paar Minuten zusammenhangsloser Krach die Hirnrinde massiert.

Das Album muss jedoch minimale Abstriche im Vergleich mit seinen Vorgänger machen, wenn es um das Pacing geht. Die vielen kurzen Interludes und Songs unter zwei Minuten, die interessante Ideen anreißen, aber nicht ausreichend ausführen, fühlen sich gerade im Vergleich mit einem “Visions Of Bodies Being Burned" nicht essentiell an. Sie tragen nicht zum Worldbuilding bei, funktionieren auch nicht wirklich als Outros oder Platzhalter zwischen schwerer zu gewichtenden Momenten in der Tracklist. Clippings Treue zu wilden Experimenten in allen Ehren, aber auch wenn es hier keineswegs zum Selbstzweck verkommt, hindert es eher die allgemeine Album-Erfahrung, als dass sie sie in irgendeiner Form bereichern würde.

Dennoch steht unterm Strich eine Soundpalette, die trotz einiger Ausreißer ohne Frage zum zugänglichsten gehört, das Clipping in ihrer Karriere bis dato zu Papier brachten. Manche Songs wie das grandiose "Mirrorshades Pt.2" gehen sogar als schnörkellose, tanzbare Stampfer durch, bei denen man die von ihrer Musik bis dato antrainierte Angst, jede Sekunde von einem auditiven Anschlag aufs Trommelfell überfallen zu werden, getrost vergessen kann. Es fühlt sich komisch an, das über einen Clipping-Song zu sagen, aber man kann dazu tatsächlich sorgenfrei tanzen. Zumindest so lange man den Inhalten kein allzu offenes Ohr schenkt.

Daveed Diggs Texte kommen gewohnt hochtrabend daher, und versuchen, dem Wahnsinn Herr zu werden, der sich hinter den technologischen Luftschlössern versteckt. Die Bilder, die Diggs dabei evoziert, sind ebenso essentiell mit nostalgischen Relikten wie den Klängen eines Dial Up-Modems oder zusammenhanglosen Code-Kaskaden aus Hacker-Filmen verknüpft, wie mit der allzu realen Gegenwart des Techno-Faschismus, in dem ein Mensch nur so viel wert ist wie sein virtueller Datensatz. Diggs bemüht Bilder wie man sich vor 30 Jahren eine digitale Utopie vorstellte, um unserer realer Dystopie ein Gesicht zu geben.

Das Fehlen eines klaren roten Fadens oder eines fortlaufenden Handlungsstrangs, wie es ihn etwa auf dem letzten SciFi-Album "Splendor & Misery" gab, lässt das Album thematisch etwas loser daherkommen, erlaubt Diggs jedoch auch erneut mehrere interessante Ideen auszuloten, wie er es auch auf den fast anthologischen Horror-Alben tat.

So wechselt "Dead Channel Sky" nicht nur musikalisch binnen Minuten von tonalem Schleudertrauma zu Berliner Nachtclub, sondern springt auch inhaltlich wild zwischen Erzählungen umher. Gangster-Stereotypen gehen Hand in Hand mit IT-Lingo, und naive, fast schon charmante Bilder des technologischen Wandels stehen den digitalen Abgründen gegenüber. So beschwört zum Beispiel "Mirrorshades Pt.2" Bilder von Y2k-Raves und kinky Nightclubs als Vehikel für Sex im Sicherheitsnetz der digitalen Anonymität, und das von einem großartigen Aesop Rock-Verse begleitete "Welcome Home Warrior" zeigt die Flucht in den Eskapismus vertrauter Videospiel-Welten als Falle, die im Verlust der eigenen Identität münden kann.

Großen Teilen des Albums wohnt eine vereinnahmende Paranoia inne, die sich breit macht, wenn die Einsen und Nullen des matt schimmernden Bildschirms anfangen, in das eigene Wohnzimmer überzustrahlen. Auf "Change The Channel" steigert sich jemand umgeben von hyperaktiven umher zippenden Bässen immer tiefer in eine digitale Psychose. Auf "Dodger" halten Diggs gehetzten Doubletimes das Tempo hoch, während er von Killerdrohnen gehetzt mit jeder weiteren Zeile eine Dystopie wie aus einem Paul Verhoeven Film lebendig werden lässt. "Polaroids" knüpft dann beinahe wieder an den Horror der letzten Alben an und verklärt in beängstigender Nüchternheit reale Emotionen als etwas Antikes, das nur noch in Schuhkartons und staubigen Schubladen auf vergilbten Fotos existiert und traurig vor sich hin vegetiert: "Memories are demons trying to burn the edges of the present that has been fixed / So it's best to leave them dead". Mach die Schublade zu, dir ging es noch nie so gut wie jetzt.

Der Closer "Ask What Happened", der es mit den stärksten Elementen in der Diskografie des Trios aufnehmen kann, führt all diese Elemente zu einem finalen Blick hinter den Vorhang, der den digitalen Raum als etwas Alptraumhaftes skizziert, der in jede Fassade des menschlichen Alltags eingedrungen ist, über den Otto Normalbürger schon lange die Kontrolle verloren hat. "History and future belong to the one percent". Über Drum'n'Bass, der mit anhaltender Laufzeit immer erhabener klingt, lässt Diggs jedoch mit zunehmender Dringlichkeit durchblicken, dass es nicht zu spät ist, sich diesen Raum wieder zurückzuholen: "Ever, be a pawn they believin' they could master /Though they never wanted to look behind the eyes of a hacker". Als finale Revelation wirkt das etwas corny, aber wenn ein Album das Recht hat, den Messias in einem von matten LEDs angestrahlten Kellerkind zu sehen, dann zweifelsfrei dieses.

Trackliste

  1. 1. Intro
  2. 2. Dominator
  3. 3. Change The Channel
  4. 4. Run It
  5. 5. Go
  6. 6. Simple Degradation (Plucks 1-13) (feat. Bitpanic)
  7. 7. Code
  8. 8. Dodger
  9. 9. Malleus (feat. Nels Cline)
  10. 10. Scams (feat. Tia Nomore)
  11. 11. Keep Pushing
  12. 12. "From Bright Bodies" (Interlude)
  13. 13. Mood Organ
  14. 14. Polaroids
  15. 15. Simple Degradation (Plucks 14-18) (feat. Bitpanic)
  16. 16. Madcap
  17. 17. Mirrorshades Pt. 2 (feat. Cartel Madras)
  18. 18. "And You Called" (Interlude)
  19. 19. Welcome Home Warrior (feat. Aesop Rock)
  20. 20. Ask What Happened

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2 Kommentare

  • Vor 5 Tagen

    Good try laut.de, aber ich bin nicht sicher, ob es capsi zurückholt, wenn ihr in der Review zu seiner Lieblingsband einen Rechtschreibfehler im Teaser versteckt.

    Irgendwie geben mir Clipping weniger als sie es müssten. Düster, gute Stimme, der kann rappen, aber irgendwie hat das Gesamtpaket, dann etwas klinisches, das mich abstößt.

  • Vor 21 Stunden

    Das ist durchaus ein herausforderndes Album, ist man bereit sich darauf einzulassen ergibt sich aber die Chance ein, in seiner Komplexität, kaum zu überbietendes Hörerlebnis zu erfahren. Mal abgesehen von der musikalischen Qualität, der atemberaubenden Art zu rappen ist aber auch die Qualität der Produktion absolut gelungen. Die Sounds fliegen einem wirklich um die Ohren und lassen einen dabei auf keinen Fall auf dem Boden zurück. Ich kann mich nur begeistert für diese Flugstunde bei Clipping. bedanken