laut.de-Kritik

Können 500 Millionen Streams irren?

Review von

Die mathematischen Grundrechenarten sind durchgespielt, Zeit für die Klassenarbeit: Ed Sheeran veröffentlicht sein "Greatest Hits"-Album. Folgerichtig betitelt mit "+-=÷× (Tour Collection)" bzw. "The Mathematics Tour Collection", geht er chronologisch durch seinen Output, vergisst auch das ein oder andere Nebenprojekt nicht und gibt Fans einen prächtigen Sack Herbstlaub mit. Auf 24 Songs und 94 Minuten Spielzeit serviert uns der gute Mann zwar erfolgreiches Material, obgleich von Qualität nicht die Rede sein kann, zumindest nicht dauerhaft.

Angefangen mit dem Quartett von seinem Debüt, bei dem "The A Team" den jungen Ed in die Bekanntheit hieven sollte durch einen sensiblen, durchweg bodenständigen Singer/Songwriter-Track, der viele dunkle Themen abhandelt wie Drogenmissbrauch und Obdachlosigkeit. Auch das zunächst larmoyante, später dann in einen folkigen Chant explodierende "Give Me Love" zeigt früh sein Potenzial. Daneben steht zum einen das stampfende Cringe-Fest "You Need Me, I Don't Need You" mit einem aufgesetzt rappenden Jungen, corny Lines, gehetztem Vortrag und befremdlichen Beatboxen. Zum anderen das mediokre, recht kitschige "Lego House".

Seine Nachfolgewerke "× (Multiply)" sowie "÷ (Divide)" scheint er besonders zu mögen, vergibt er jeweils sechs Startplätze auf dieser Best-Of. Beim Multiplizieren merkt man eindeutig den Richtungswechsel, weg vom nachdenklichen Jüngling, hin zu einem gewollt coolen, aber tiefgründigen Musiker. "Sing", produziert von Pharrell Williams, klingt leider wie eine billige Justin Timberlake B-Side: gleicher Habitus am Mikrofon, Gesangsmelodien, Falsett-Stimme, leicht funkiger Dance-Pop. Auch das angeblich von Ellie Goulding handelnde und von Rick Rubin produzierte "Don't" kopiert eher die schlechten Standards von One Republic, als eigenständig etwas zu kreieren. Viel besser klappt das beim ansprechenden "Bloodstream" mit Rudimental, bei dem nachdenklicher Indie-Pop ertönt.

Natürlich dürfen die überlebensgroßen Balladen nicht fehlen, namentlich das wuchtig aufgeblasene "Photograph" sowie die Liebesschmonzette "Thinking Out Loud" mit grotesk überromantisierten Lyrics. Darüber meint Ed selbst, dass es der einzig fröhliche Song auf dem Album sei – nun, wenn Fröhlichkeit so klingt, will ich sie ganz bestimmt nicht. Im Gegensatz zu vielen anderen Hörer:innen, knackte doch dieser Song einige Rekorde, wie die ersten 500 Millionen Streams auf Spotify und er hielt sich ein ganzes Jahr lang in den UK Top 40 Charts. Spätestens jetzt muss man neidlos anerkennen, dass Sheeran starke Refrains schreibt, denn so sehr man sie auch hasst, man singt sie halt trotzdem mit.

Beim Dividieren hingegen will er die Coolness mitnehmen in Form vom grässlich-dümmlichen Dance-Pop "Shape Of You", drückt sich aber fast durchgehend in Balladen aus, die ihm viel besser zu Gesicht stehen – wären sie nicht alle so unendlich kitschig. Das altmodische "Perfect" digitierte mit der Zeit sogar noch zu "Perfect Duet" mit Beyoncé und zu "Perfect Symphony" mit Andrea Bocelli; das schluchzende, hinterher weinende "Happier" sowie der einlullende Softrock "Dive" samt schnulzigem E-Gitarrensolo spielen die einfachste Klaviatur. "Galway Girl" mixt ungalant Irish Folk mit Akustik-Pop, aber immerhin hat er sich gegen die Meinung von Warner durchgesetzt und den Song dennoch veröffentlicht – das ist sympathisch. Einen Banger und meiner Meinung nach einen seiner stärksten Songs hat er zum Glück ebenfalls mitgenommen: "Castle On The Hill", eine mitreißende Ode an seine Heimat Framlingham, Suffolk mit druckvollem Refrain und rastlosen Gitarren.

Zwischen Album zwei und drei hat er noch ein Duett reingemogelt: Das atmosphärische und wirklich schöne "I See Fire" für den zweiten Film der Hobbit-Trilogie sowie den sehr soliden House-Track "Lay It All On Me" von Rudimental, worauf er eigentlich nur ein Feature ist. Eine tolle Geste.

Das Zepter beim Rest des Rosinenpickens schwingt der DJ und Produzent Fred Again.., denn vier der letzten sechs Titel tragen seine Handschrift. Warum Ed vom Collaborations Project zwei der grausigsten Songs nimmt, versteht keiner, denn weder Justin Bieber noch Khalid machen die absolut belanglosen, einfältigen Darbietungen besser. Das Tandem aus "= (Equals)" verschlimmert das Ganze sogar: "Bad Habits" ist schlicht und ergreifend fürchterlich. Ein desolater Abklatsch von Tropical House, bei dem selbst Kygo dankend ablehnen würde. Das uninspirierte "Shivers" evoziert bei mir Gänsehaut der negativen Art, wie uninspiriert und schlampig dort gefuhrwerkt wurde.

Der Rotschopf nimmt von seinem letzten richtigen Album "– (Substract)" lediglich "Eyes Closed" mit, eine bei sich bleibende und seriöse Elektro-Ballade. Zudem vergisst er auch mit "Afterglow" eine heimatlose Single nicht, ein weiteres Liebeslied über seine Frau Cherry Seaborn, bei der doppelte Gesangslinien so klingen, als würde er Autotune benutzen.

Die mathematische Tourkollektion belegt seinen stetigen Willen nach Veränderung und wie er mit Stilen kokettiert, um sich beim nächsten Mal doch wieder ein stückweit in eine Komfortzone zu verschanzen. Ein interessanter Überblick dessen, was Ed Sheeran ausmacht und wie er zu diesem Massenphänomen werden konnte. Ein Hitgarant, der noch so viele andere Künstler zu Erfolg führte als Songwriter: Etliche Songs für seine Freunde von One Direction, "Everything Has Changed" von Taylor Swift, "Say You Love Me" von Jessie Ware, "Love Yourself" von Justin Bieber, "Dark Times" von The Weeknd oder auch "Make It Right" von BTS. Und das ist nur eine kleine Auswahl. Was ich damit sagen will: Es steckt viel Talent in dem Mann und er schreibt massentaugliche, bisweilen auch wirklich starke Lieder.

Ich persönlich würde es befürworten, würde Sheeran Abstand gewinnen vom seichten, sentimentalen Gejammere und mal ein Album aufnehmen, das mehr Avantgarde beherbergt, mutiger, schlichtweg interessanter auftritt, auf den Pop und seine Algorithmen scheißt, weil er das spielend leicht in Kauf nehmen könnte. Die vorliegende Werkschau zeigt dies eindrucksvoll: aus rein mathematischer Sicht stimmen die Zahlen des Erfolgs, auf der Qualitätsebene und vom künstlerischen Anspruch her geht die Rechnung indes nicht auf.

Trackliste

  1. 1. The A Team
  2. 2. You Need Me, I Don't Need You
  3. 3. Lego House
  4. 4. Give Me Love
  5. 5. Sing
  6. 6. Don't
  7. 7. Thinking Out Loud
  8. 8. Bloodstream
  9. 9. Photograph
  10. 10. Tenerife Sea
  11. 11. I See Fire
  12. 12. Lay It All On Me
  13. 13. Castle On The Hill
  14. 14. Shape Of You
  15. 15. Galway Girl
  16. 16. Perfect
  17. 17. Happier
  18. 18. Dive
  19. 19. I Don't Care
  20. 20. Beautiful People
  21. 21. Afterglow
  22. 22. Bad Habits
  23. 23. Shivers
  24. 24. Eyes Closed

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1 Kommentar

  • Vor 23 Stunden

    Die Wünsche für seine zukünftige Musik teile ich. Songs wie "Sing" und, ganz besonders, "Bad Habits" mag ich allerdings auch ganz gerne. Zu Letzterem hab ich sogar, man mag es kaum glauben, eine gewisse emotionale Verbindung, nicht textlich, anderer Natur, führ ich jetzt nicht aus.

    Leider wurde bei den ausgewählten Kollaborationen hier wirklich ins Klo gegriffen. Bei "Beautiful People" bringt er noch einen gewissen Charme mit, auf den Song als Ganzes geht der leider kaum über. "I Don't Care" wiederum ist Akustikabfall, den Justin Bieber noch im Alleingang hätte zusammendengeln können.

    Hätte man diese beiden Songs final durch "Celestial" und "England" ersetzt, könnte man sich den Kauf überlegen. So ist es leider eine vertane Chance...

    ("Digitierte", sehr gut! Hätte nie gedacht, das Wort in einem solchen Zusammenhang zu lesen!)