laut.de-Kritik
Eines der besten Dancehall-Alben, die je produziert wurden.
Review von Philipp KauseDie Innocent Kru war eine außergewöhnliche Dancehall-Gruppe mit hohem Innovationspotenzial in den späten Neunzigern. Sie kam zeitgleich mit Red Rat, Mr. Vegas, Voicemail, Ward 21 und anderen Hochgeschwindigkeits-Toastern auf. Besonderes Merkmal des Vokal-Quartetts war, dass sie im Grunde Hip Hop veranstalteten. Allerdings ohne die klassischen Elemente des Scratchings, Sampelns (nur ganz selten), ohne Breakdance oder Graffitis. Dafür aber mit Hip Hop-Klamotten und einem sportlichen Rhythmus-Vibe, der entfernt an Westcoast-Classics erinnert.
Zudem nahmen die vier bereits den fluffigen Latin-Groove der Reggaeton-Welle der mittleren Nuller-Jahre vorweg und bauten ihn in Spurenelementen ein. Richtig klar offenbart sich das allerdings erst jetzt. Nun liegen die Archiv-Schätze "The Lost Tapes Vol. 2" vor. Die unschuldige Crew hatte es nur auf ein einziges Album gebracht, jedoch viel aufgenommen. Worldbeat-Zutaten stets dabei. Sogar Spuren von Cha Cha Cha halten im Stück "Cha Cha" Einzug. "T.I.O." ist von kubanischem Son infiltriert, "The Break Down" baut auf sanfter Afro-Percussion auf. "Walk 'n Live" kann man Bollywood-Einfluss nicht absprechen (in der Karibik Chutney-Soca in jenen Jahren schon am Abflauen, da war die Kru etwas spät). Die Aufnahmen dürften aus der Zeit '99 bis 2003 stammen - jedenfalls gilt das fürs Volume 1, das schon im berüchtigten Lockdown-März 2020 auf den Digi-Markt kam.
Solche archäologische Ausgrabungs-Arbeit auf irgendwelchen alten Festplatten könnte einem egal sein. Wäre das hier nicht eines der besten Dancehall-Alben, die je produziert wurden. Die überflutende Wortgewalt der Cru zu erfassen, ist relativ schwierig, und ich muss an dieser Stelle passen. Die vier praktizieren nun mal Posse Cut-Style und füllen jede Zehntel-Sekunde zementdicht mit Silben aus. Dazu gesellen sich simple, aber effektive Casio-Spielereien.
Stylische Synth-Strings mischen sich in "Esposa" drunter, während sonst im Wesentlichen Drums und Wort-Feuerwerk regieren. Diese Musik ist definitiv deshalb so schön, weil sie so einfach und entschlackt rüber kommt. Und wenn man mal die Vibes einsaugt, wird man schnell süchtig. Denn die Beats sind klasse, die Lebenslust ansteckend, die Stilfusionen lustig, die Stimmenkontraste das Salz in der Suppe, die Bässe (z.B. auf "Dispicable") funky und exzellent, der Flow durch die Platte sprüht und schäumt mega, und alles zusammen wirkt sympathisch verrückt.
Den Spaß-Peak erreicht das Relikt an der Stelle, an der sich die Sängerin Chevelle Franklyn in "So Jah Say" zu den Jungs gesellt und einen R'n'B hinlegt, der sich gewaschen hat und mindestens Aaliyah- und TLC-Niveau pflegt. Ohrwurm-Garantie inklusive! "Super Freak" mit der rauen Cherine Anderson als Gast weist eine gewisse Nähe zu Missy Elliotts und Timbalands Treiben in jener Zeit auf. Kein Wunder: Denn damals kursierte noch die im Dancehall ebenfalls recht populäre Foxy Brown durch die Lande und ließ diese Art Ragga-Raphall explodieren - man höre alte Hits wie "Hot Spot".
Man könnte sicher ein Buch über die Platte schreiben, aber bevor das alte Teil noch älter wird, sei es bei diesen warmen Worten belassen. Hier vergeudet keiner Zeit, das mal selbst auszutesten. Erschienen nur als mp3, das dafür sogar wide-spread, z.B. auf dem Discounter-Dienst Ihres Vertrauens. Hinter dem Ganzen stecken die Entdecker, natürlich: Sly und - rest in peace - Robbie.
1 Kommentar
Tatsächlich großartig!