laut.de-Kritik
Yehaa! Banjo-Romantik unter der rüden Metal-Decke.
Review von Amelie KöpplSchon der erste Blick aufs Cover ruft Assoziationen hervor: Ein galanter Herr präsentiert stolz ein Banjo. Im Hintergrund schweben diverse Utensilien, die man eher im historischen Museum verortet - oder auf dem Seziertisch. Es ist kaum zu glauben, doch dieser junge Mann mit dem gezwirbelten Bart drischt einem im ersten Song namens "The Six Fingered Hand" wütende Heavy-Metal-Parts und harte Gitarrensound in den Nacken. "Six fat fingers grip at my neck and make my heart beat slower."
Ganz ähnlich verhält es sich mit den nächsten zehn Nummern auf Teil eins von Jamie Lenmans Solodebüt "Muscle Memory". In "Fizzy Blood" erwarten uns ein wenig mehr Melodie, luftige Becken und schließlich ein kompletter Brainfuck innerhalb zwei kurzer Minuten. "No News Is Good News" driftet leicht ins Progressive ab und wirft mit immer wütenderen Vocals und knackigen Breakbeats um sich.
Erneut dick aufs Maul gibt "One Of My Eyes Is A Clock" mit surrenden Gitarrenriffs und "Shower Of Scorn" mit einem Stückchen Doom. Im Grunde besteht der erste Teil von "Muscle Memory" aus Hass, Wut und elendigem Gebrüll. Faszinierend sind dabei die feinen Unterschiede zwischen den einzelnen Songs.
Am Schluss des ersten Kapitels bleibt eine heisere Stimme zurück und mehr oder weniger melancholische Titel wie "All The Things You Hate About Me, I Hate Them Too" oder "Muscle". Mal packt Lenman den Überbass aus, mal wechselt er schlagartig von Schlagzeuginferno zu dickem Basslauf. Wen wunderts da noch, dass er auf der zweiten CD komplett die Richtung wechselt?
Nach der Schreiattacke bietet Lenman nun ein Ukulelen-Kleinod auf und offenbart zum ersten Mal nach knapp 40 Minuten sein lyrisches Ich. "When I get my shotgun house, you can visit all the time / I will move from back porch to front room by walking a straight line": In "Shotgun House" erzählt er von einem Traum vom kleinen Häuschen am Mississippi. "I Ain't Your Boy" wirft erste Anspielungen zum Albumtitel auf: "The naked lip beneath the nose / a muscle memory". Dabei sind beide Titel nur der Anfang der symbolischen Erinnerungsfunktion seines Herzens.
Kitschig wirds in "It's Hard To Be A Gentleman". So richtig ernst nehmen kann man den kernigen Engländer dabei nicht: Zu krass kommt dieser Romantikkontrast mit weiblicher Gesangsverstärkung. Mal sehen, was Jamie in den anderen kleinen Geschichten so unterbringt.
Nebenbei muss man erwähnen, dass Lenman seine Instrumente wechselt wie andere Leute die Unterhosen: Eben war noch Klavier im Spiel, jetzt greift er zum klassischsten aller Country- bzw. Folk-Tools: das Banjo. Eher wie ein neues Stück des John Butler Trio klingt "For God's Sake". Sanft geschwungene Rythmusinstrumente gesellen sich zu leisem Zupfen und ruhigen Vocals. Wo vorhin noch wildes Geschrei war, sind jetzt wunderschöne Gesangsmelodien. "I have a monster on my shoulder / he speaks with your voice / he wears your face.". Ganz ähnlich, nur im Zweiklang, kriecht "Little Lives" unter die Haut.
Yehaa! Was kommt denn da plötzlich auf uns zugeritten? Schnelles Banjospiel treibt "If You Have To Ask, You'll Never Know" geradewegs in den nächsten Saloon. Metal, Lagerfeuerromantik und nun trabender Country? Bin gespannt, was da noch kommt.
Und wer sagts denn, "Pretty Please" wirft noch ein swingendes Klavierstück in den bunten Genrereigen, der immer mehr Spaß macht. Am besten kommt hier der Text, denn statt prüder Liebeslyrik singt Lenman über die große Kunst der Gunstgewinnung.
"Saturday Night" präsentiert perfekt die Stimmungslage eines gestrandeten Singer-Songwriters, der mit quietschenden Fingern auf den Saiten über einen soeben verstorbenen Freund sinniert. "A Day In A Life" ändert die Befindlichkeit dann wieder schlagartig - ein schönes Shanty zum Boden stampfen und rumbrüllen. "Memory" folgt als ein letztes Liebeslied.
In schicken Gamaschen und lässig über die Schulter geschwungenen Hosenträgern räumt der ehemalige Reuben-Frontmann sämtliche Metal- und Rockbandvorsätze vom Tisch. Kein Schwarz, sondern Sepia. Kein düsteres Cover-Monstrum mit bleckenden Zähnen und unerkennbarem Bandnamen, sondern eine Art Wild-West-Romantik. Kein Doppelalbum, sondern ein Gesamtkunstwerk. Da kann man nur gespannt sein, für was sich Jamie Lenman nächstes Mal entscheidet.
3 Kommentare
Tatsächlich ein richtig cooles Ding, der Kerl hat auch ne tolle Stimme.
Danke für den Tipp. Grandioses Album!
Das ist echt ein Hammer Album, ich danke auch für den Tipp! Ich fände es nur besser wenn das Album nicht zwei geteilt wäre, sondern alles durchmischt. Dann hätte es ein "mellon collie and the infinite sadness" für Arme werden können