laut.de-Kritik
Eine psychedelische Reise ins Innere, zärtlich und intim.
Review von Toni HennigDas Anfang letzten Jahres erschienene "All Melody" markierte das bislang ambitionierteste und vielseitigste Werk des Komponisten und Pianisten Nils Frahm. Dafür errichtete er sich ein Tonstudio an einem historischen Ort der ehemaligen DDR, im Saal 3 des Funkhauses an der Berliner Nalepastraße, renovierte es und baute es, suchend nach dem perfekten Klang, nach seinen Bedürfnissen um. Im Juni ließ er "Encores 1" folgen, eine EP, die fünf Akustik-Skizzen für Klavier und Harmonium enthält, die er ursprünglich für das Album schrieb. Nun erscheint mit "Encores 2" weiteres Material, das bei den Sessions zum Longplayer anfiel. Es zeigt seine Vorstellung von elektronischer Musik.
Die Idee zur "Encores"-Serie reifte schon vor "All Melody" heran: "Nämlich drei Veröffentlichungen zu schaffen, von denen jede ihren eigenen Stil besitzt und ihr eigenes Thema", erzählt der 36-Jährige. Deswegen hatte er zunächst "ein Triple-Album" bilden wollen. Irgendwann habe sich jedoch "All Melody" verselbständigt und er verwarf den Gedanken. "Letztlich funktionieren die 'Encores' wie klangliche Inseln, die 'All Melody' umschließen", lässt er weiterhin wissen.
Beim ersten Teil konzentrierte sich Frahm vor allem auf seine melodischen Arrangements. An einígen Stellen verlor er sich jedoch zu sehr in Lieblichkeit und Harmonie. Und dann gab es da noch "Harmonium In The Well": ein unfassbar niedergeschlagenes Stück, das mit seinem wehmütigen, fortdauernden Harmonium-Motiv, das in der düsteren Tradition Nicos steht, so einsam und verloren wie das Meer klingt. Da war sie wieder, die Gänsehaut.
An "All Melody" ging Frahm dagegen mit einem ganz anderen Ansatz heran. So konstruierte er neue Klaviertypen, experimentierte mit riesigen Orgelpfeifen und nahm einen Großteil des Werks in der Hallkammer des alten Funkhauses des DDR-Radios auf. Unter Hinzunahme von Streichern, Trompete, Marimba und einem Chor erkundete er die Wechselbeziehung zwischen Raum und Klang.
Sein intuitives Klavierspiel ergänzte er zusätzlich um technoide Loops, die sich zumindest als funktional erwiesen. Elektronik und Klassik wollte er daher zu einer schlüssigen Einheit verweben. Allerdings besteht eine gute Platte nicht nur aus grandiosem Handwerk. Manchmal lief sie melodisch zu sehr ins Leere.
Mit "Encores 2", nicht an der Spree, sondern in einem alten ausgetrockneten Brunnen auf Mallorca eingespielt, schließt sich der Kreis. Es lässt zum Glück den gefälligen Schönklang, der auf "Encores 1" hier und da noch mitschwang, genau wie die Längen des Albums weit hinter sich und geht somit als herausragendste Veröffentlichung aus den "All Melody"-Sessions hervor.
"Sweet Little Lie" durchzieht eine melancholische, aber einfache Piano-Melodie, bedeckt von dichten Hallschwaden, die Frahm von seiner zärtlichen und intimen Seite zeigt. Sie leitet, kurz unterbrochen vom Klappern der Technik und vom Rauschen der Umgebung, in "A Walking Embrace" über, das sich mit sanften Klavier-Tupfern und fast unmerklichen akustischen Nuancen in traumwandlerische Sphären bewegt. Die betrat in ähnlicher Form nur noch Harold Budd mit seinen Ambient-Arbeiten.
Danach legen sich in "Talisman" windartige Geräusche und sphärische Elektronik wie ein Schleier der Trauer über das Gemüt des Hörers. Eindringlichkeit lässt sich schließlich auch mit stillen, reduzierten Klangmitteln erreichen.
Trotz alledem setzt der Wahl-Berliner im abschließenden "Spells" auf mehr Breite und Opulenz. Percussions und Streicher bilden einen noch eher verhaltenen Einstieg, bis aus dem Nichts kreisende Sequencer-Sounds in bester Tangerine Dream-Manier auftauchen. Diese drehen sich für gut zwölf Minuten schwungvoll um 360 Grad, während meditative akustische Einschübe und Chorgesänge die trancehafte Wirkung des Tracks verstärken, der zu einer psychedelischen Reise ins Innere einlädt. Er endet so, wie er begonnen hat und rundet das Kurzformat beeindruckend ab.
Hoffentlich bleibt es nicht das letzte Lebenszeichen von Nils Frahm. Auf "Encores 2" besinnt er sich auf seine atmosphärischen Stärken zurück, die er schon auf dem Soundtrack zu "Victoria" (2015) oder seiner Kollaboration mit Woodkid, "Ellis" (2016), mehr als einmal andeutete. So findet er endlich wieder zu sich selbst. Einziger Wermutstropfen: An die trostlose Schönheit von "Harmonium In The Well" reicht keines der Stücke ganz heran. Dafür lässt sich die Veröffentlichung hervorragend am Stück genießen.
2 Kommentare mit einer Antwort
Hm, Nils Frahm mag ich. Er ist ambitioniert und beständig. Bei diesem Werk hängen im Streaming auf jedem Lied irgendwelche Rauschfahnen- ist das Absicht?
Ansonsten ist es hier in D schwierig für Künstler bei elektronischer Musik; der Übervater, der eigentlich kaum jemand außerhalb dieses Bereichs kennt thront seit Jahrzehnten über ihnen und alle wollen krampfhaft nicht so klingen wie er. Auch kein leichtes Brot.
Talisman ist schön.
Die Umgebungs- und Rauschgeräusche sind glaub ich Absicht. Auch auf All Melody gab es die teilweise schon, inklusive Tastengeräusche usw. Find ich eigentlich ziemlich geil und grade auf Kopfhörer ergibt sich da ne sehr authentische Akustik.
Die Musik von Nils liebkost die Seele und versöhnt einen mit der Welt. Am besten live, weil man da sieht, wie er selbst in seine Musik abtaucht und eins wird mit seinen Instrumenten. Ein bedeutender Kunstschaffender.