laut.de-Kritik
Erfrischende Revitalisierung der Stax-Traditionen.
Review von Philipp KauseBeim Mississippi denkt man an alte Raddampfer, scharfe Eintöpfe mit Flusskrebsen (crawfish) und sumpfige, braungrüne Brühe mit großen dunklen Fröschen (bullfrogs). Um crawfish und bullfrogs geht's im aktuellen Song "Rabbit Foot" der North Mississippi AllStars, zu finden auf der rundherum schönen LP "Set Sail". Der Nord-Mississippi steht sinnbildlich für eine Region landwirtschaftlich unfruchtbarer Territorien rund um die Stadt Tupelo. Ironischer Weise gaben diese Gebiete für die Sklaverei wenig Arbeit her.
Die hier musizierende Band genoss 2002 bis '06 einen kurz aufblitzenden Bekanntheits-Nimbus, als sie im Fahrwasser der Blind Boys Of Alabama, der Derek Trucks Band und Dr. Johns beliebter "Creole Moon"-CD den Nerv einer kleinen Südstaaten-Retro-Welle traf. Etliche Grammy-Nominierungen später legt die Geschwister-Gruppe ein ausgesprochen ruhiges, detailverliebtes und beschauliches Album mit Feeling für Harmonien vor. Das Songmaterial geht ausgezeichnet ins Ohr.
Als Sinnbild zur Ablösung von der Sklaventradition in den Köpfen, weg von der Zweiklassen-Gesellschaft der Rassentrennung, galt in den Sechzigern und frühen Siebzigern das Stax-Label. Einer seiner Protagonisten trägt den herausstechendsten Track vor: William Bell. Der heute 82-Jährige schrieb seinerzeit eine Menge Jukebox-Stuff zusammen mit Booker T. und Steve Cropper. Orgeltöne im Stax-Stil von Booker T. and the MG's sowie dumpfe Cropper-ähnliche Gitarren-Grooves - beides paart sich in "Never Want To Be Kissed (feat. William Bell)" mit einer einnehmenden Hit-Melodie.
Der Stax-Stil zieht sich durchs ganze Album. Insbesondere zittrige Guitar-Moments zur Spannungssteigerung psychedelisieren den schweren und trottenden Sound der "shaking" Tambourine-Trommeln. Mitunter mag einem Knopflers "Sailing To Philadelphia"-CD in den Sinn kommen, wenn die Segel-Reise sehr liebliche Züge annimmt, so in "Didn't We Have A Time".
Zwei weitere cheesy Melodien drängen ins Ohr: das funkyeske "See The Moon" und das wohlige "Outside". "Outside" spielt mit dem Wechsel der Stimmen und Keyboard-Figuren, sprudelt vor Freude an den funky Riffs und am gemeinsamen Musizieren überhaupt. Man spürt den ursprünglichen Charakter der Jam-(Session)-Band, bei der sich viel aus dem Augenblick, den Vibrationen im Raum, dem Bauchgefühl ergibt.
Dschungeliges Sounddesign betört immer wieder. Dampfende Luft, verzerrende Hitze, schwüle Schwere prägen die Atmosphäre. Gerade die ist ein starker Magnet von "Set Sail". Handwerklich wandeln die Allstars ihre Ideen also vorzüglich um, wie sie die Segel setzen und uns mit auf ihre Bootstour nehmen.
Auf der Fahrt scheint der Mond. Der Hot Tune "See The Moon" nutzt in rural-rustikalem Paargesang die Co-Vocals der schmetternden "Sister Sister (...) Queen" Sharisse Norman. Sie schmettert "Zeig mir den Mond / der durch den Baum scheint und über mir schwebt". "Funky electricity" reimt sie auf "chemistry", ihre Engelsstimme ergießt sich in heißen P-Funk mit Blues-Grundierung. Dieser Song thematisiert direkt die Energie der Musik - und die springt über.
Ein gewisses Lagerfeuer-Flair der Platte hat wohl damit zu tun, dass unsaubere Spielmomente zum Jammen dazu gehören: Töne, die sexy verstimmt wirken und verzogen klingen - sie sind nahbar und fürs Konzept hier Gold wert.
Während der Opener "Set Sail Part I" zugegeben mit holzig-solidem Sound einen altbackenen Eindruck macht, zählt auch der zum Konzept. Denn er verweist auf eine dünn besiedelte, ländliche Gegend - parallel dazu der Text auf die Lebenswelt Wasser: "Der Wasserpegel mag weiter steigen / wir müssen die Segel setzen und wieder aufbrechen / wir sollten uns behaupten". Trotz des spröden Charmes lohnt es sich sehr, ins Innere des Albums vorzudringen und sich von den ersten ein, zwei Nummern nicht abschrecken zu lassen. Selbst dort beim Einstieg hat die häufige Zahl an Wiederholungen in diversen Tonhöhen etwas Faszinierendes, kommt einer Beschwörung gleich und wirkt anmutig und kirchlich.
Insgesamt führt "Set Sail" vom Trend weg, jeglichen Retro-Soul auf Sharon Jones und Charles Bradley zu trimmen oder ins urbane Korsett Mayor Hawthornes einzuspannen. Die North Mississippi Allstars folgen ihrer eigenwilligen Segelroute. Dadurch klingen sie frei und zeitgemäß. Das Schippern vom digitalen zum physischen Release dauert derweil zwei Monate mit Ankunft im April.
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