laut.de-Kritik

Die Kreativität dieses Mannes wird ein ewiges Rätsel bleiben.

Review von

Irgendwann in den 80ern wurde Paolo Conte, ohne dass er's wusste, zum ja-den-hören-wir-natürlich-auch-Künstler von Toskana-Urlaubern und anderen Italien-Kenner*innen, quasi dem Statussymbol des guten Geschmacks. Dabei interessierte ihn das Pop-Geschäft nicht, sondern nur ein einziger Aspekt: Wie Musik Trost spendet.

Conte stammt aus einer musikalischen Familie, in der man Musik aber nicht als Broterwerb sah. Sein Bruder Giorgio (Piano, Jazz-Drums, Gesang) und er (Vibraphon, Klavier, E-Piano, Synths, Marimba, Kazoo, Gesang) rutschten irgendwie ins Bühnenleben rein, als Spätberufene nach einem Jugendstreich als 'Paul Conte Quartet' und einem Jahrzehnt als Komponisten im Off. Beide brachten jenseits der 40 ihre Debüts raus. Giorgio blieb ein regional anerkannter Artist zwischen Alpen und Adria, mit zehn schönen eigenen CDs. Paolo wurde aufgrund des Celentano-Hits "Azzurro" ein Star zwischen Amsterdam und Athen. Denn er schrieb den Hit. Der Einzelgänger arbeitete trotz dieses Erfolges als Rechtsanwalt in seiner Kanzlei weiter.

Kaum ein europäischer Künstler schaffte einen so atemberaubenden Spagat zwischen Tango, Synthiepop, Folklore, Fandango, Boogie, Jive, Jazzrock, Swing, Foxtrott, Filmmusik, Broadway, Easy Listening, Spoken Word-Songs, Scat-Gesang, Comedy, Western, Wort-Akrobatik, Worldmusic, Balladen, Rumba, Samba, Klezmer, Chanson, Cantautore-Stil, Flamenco-, Blues-, Soul- und Symphonik-Elementen. Braucht er acht Minuten, dann füllt er sie mit einem Spannungsbogen. Ist er hingegen nach zwei Minuten fertig, wie bei seinem bekanntesten Lied, "Via Con Me", dann ist die Sache genauso rund. Ein Künstler, der über Konventionen steht.

Was er in seinen Liedern erzählte, hatte oft Bezug zu seinem Alltag oder seiner Passion: Triste Geschichten, wie er sie aus seiner Anwaltskanzlei für Insolvenzrecht mitbrachte, von Klienten, die bei ihm ihre Überschuldung offen legten. Stories, mit denen er eine Zeitreise in die große Ära des Big Band-Jazz antrat. Und Geschichten, die ihm nachts einfielen, wenn er eine Idee erträumte.

All seine mutige Vielfalt, sich nicht in eine Ecke pressen zu lassen, trägt ein massives, unerschütterliches Fundament, das mit allen Stil-Sprüngen elastisch mit wippt: Es besteht aus seiner knarzigen Kettenraucher-Stimme und seinem fantasievollen Klavierspiel. Doch rundherum passieren die wirrsten Dinge. Rhythmische Breaks, geniale Soli, Sprünge zwischen Kontinenten. Er ist Saxophon- und Posaunen-Fan und richtet viele seiner Stücke auf die Bläser-Soli aus. Als absolute Highlights, manchmal absurd komisch überdreht, jazzen sie Songs hoch, die an sich schon schräg und schnell sind.

Doch der Italiener hat auch eine ruhige, tief melancholische Seite. Tief in nebligen Sphären versunken, lässt er wabernde und sanft pulsierende Keyboard-Flächen langsam vorbei gleiten. Die Alben dieses Ausnahme-Komponisten strotzen vor Kontrasten. Genauso spannend und genauso witzig wie "Come Di", ein musikalisches Stück Kabarett-Kunst, für das man kein Italienisch können muss, ist der Blick in die produktive Tracklist des ganzen zugehörigen Albums und aller seiner Werke. Er hat sich keine schwachen Platten durchgehen lassen. Das Meilenstein-Votum für das (selbstbetitelte) Album Nummero Sechs (1984) erfolgt in der Qual der Wahl.

Paolo gab wirklich großartige Konzerte, unermüdlich noch mit 86 Lenzen auf dem Buckel: Ein wahrer Meister der lebhaften, spannenden Performance. Eine stattliche Zahl an Live-LPs konkurriert daher mit den Studioalben um den Meilenstein-Status.

Von seinem Debüt (1975), das ebenfalls "Paolo Conte" heißt, ist kein Lied so sehr bekannt wie das verquaste Aquarell auf dem Blickfang-Artwork des Vinyls. Die zweite Scheibe hört auch wieder auf den Namen und Titel "Paolo Conte". Sie zeigt wieder ein Aquarell, diesmal mit vielen Menschen, die keine Gesichtsausdrücke haben. Der 'Zweitling' deutet bereits eine große Vorliebe an: Für die Milonga (eine Spielart des Tango, auch Schauplatz von Tango-Tanz-Veranstaltungen, seien sie in Argentinien oder am zweiten großen Tango-Hot Spot heute, in Paolos geliebtem Paris). Die dritte Platte "Un Gelato Al Limon" zeigt erstmals auch das Gesicht des Künstlers auf dem Cover. Nicht so sein Ding, später bevorzugt er sogar mal seinen verstorbenen Hirtenhund für die Front.

Häufig erlebt man ihn auch nahbar, sehr dicht am Mikrofon, spielerisch, witzig, aufmunternd, frisch, ungewöhnlich, ohne ein Erfolgsrezept zu Tode zu spielen. Seine Art, das Mikro mit Lautmalerei beinahe abzuküssen, wird zur charismatischen Stilfigur. "Bwffff bwffff", ahmt er die Posaune nach, "ra-ta-tat" grunzt er wie ein kleines Kind im Duktus der Percussion, "Ta-da-dadada / ta-daaa", imitiert er sein eigenes Klavierspiel mit dem Mund, wie bei "Gli Impermeabili", dem Lied über Regenmäntel.

Das Must-Have ist die hier vorliegende '84er-Platte. Sie ist einem Punkt untypisch, denn sie klammert den Tango aus. Und sie startet mit "Sparring Partner", das in zwei Filmen prominent platziert ist: Roberto Benignis "Tu Mi Turbi" (1983) aus Italien und François Ozons Überkreuzung mehrerer Paares-Frust-Geschichten, "5 x 2" (2004). "Sparring Partner" - Beziehung als Boxkampf. Die makellose Nummer fällt in ihrem weichen Flow ziemlich aus dem Conte-Kosmos heraus und ist Clip-artig auf die surreale Filmszene über Polyamorie geschnitten. Das Markanteste am Lied ist der Kontrabass.

Der Zusammenklang aus Streicher-Fraktion und wattierenden Keyboards ist typisch Eighties, aber toll gemacht. Conte arbeitete im Laufe seiner Diskographie mit sechs verschiedenen Producern. Diese Platte ist die einzige, bei der sein Arrangeur Antonio Marangolo, Jazzer aus Sizilien, alle Schritte in die Hand nahm. Er übernahm wechselnde Instrumente auf den verschiedenen Tracks, hier die Keyboards, und es fällt auf, dass die Instrumente gut zusammen gedacht wurden. Das Lied hat ein extrem eingängiges Leitmotiv. In den Instrumental-Abschnitten hört es sich an wie die Schläge gegen einen Boxsack, wenn kein "Sparring Partner" zur Stelle ist. Wovon der Song handelt, ist in seinen Tier-Allegorien schwer zu sagen. Ein Tiger und ein Makaken-Affe kommen vor.

Der Makake taucht als Klammer zwischen Opener und Schluss auf, denn das Album endet mit "Macaco". Obwohl der Mensch dem Schimpansen näher steht, steigt "Sparring Partner" damit ein, dass eine Frau ihren (Ex-?)Partner, Anfang 40, mit einem Makaken vergleicht. Dieser verdrängt düstere Teile seiner Erinnerungen hinter einer Grins-Fassade. Weiter spielt der Text dann im Dschungel, wo ein Elefant und ein Tiger als Referenzen her halten. In diesem Menschen-Dschungel fahren Straßenbahnen und Busse, die hier zu Fluchtmitteln werden, um die finale Trennung zu vollziehen.

Das zweite Stück "Chiunque" ist ein feines Edel-Kleinod aus der Abteilung Kammermusik. Auf fast allen Conte-LPs findet sich ein Stück in diesem Stil, Piano, Saxophon, engagierter Gesang, wenige Zutaten, viel los, Dramatik, Dynamik, leise, laut, langsam, schnell, behutsam anschleichend, lebhaft kulminierend. Lyrisch setzt sich das Motiv des maskierten Mannes durch, der als 'Zorro' auftaucht. "Chiunque" ("Jeder; egal wer") gehört im Rückblick zu den übersehenen Liedern Contes, funktioniert aber im Kontext des Albums sehr gut, um die Spannung für die folgenden Tracks anzuheizen.

Sowohl "Come Di" als auch "Simpati-simpatia" widersprechen gängigen Songwriting-Normen. "Come Di" greift auf die große Zeit des Variété, der 'Komödie' zurück. Hier wächst den Etablissements, in denen zum Beispiel Swing-Musik ihren Platz hatte, eine romantische Rolle zu. Sie stehen für Plätze von Charmeuren, Sentimentalität und dem Leben in vernebelten, weich gezeichneten und verklärten Erinnerungen.

"Come Di" hat einen lustig wippenden Boogie-Rhythmus und reimt komisch, das merkt man auch bei oberflächlichem Hören. "come di orchestra illusa a Napoli / e poi sgridata a Minneapoli", ein kleiner Seitenhieb auf zwei faszinierende Orte für Conte: Da wäre einmal Neapel, das andere Italien, kulturell, klimatisch, sozial ein ganz anderer Landesteil, schon damals mit ungefähr 20 mal so vielen Einwohnern wie das beschauliche Asti im Anbaugebiet der Piemont-Kirsche. Conte verortet sich außerdem in seiner Fantasie nach Minneapolis. Heute als Stadt George Floyds traurig berühmt, war sie 1984 die des "Purple Rain". Eines ihrer Wahrzeichen, die Stone Arch Bridge, baut die altitalienische Architektur des Viadukts, Kernmerkmal des römischen Imperiums, nach und schlug die erste befahrbare Brücke über den Mississippi. Was in Paolo Contes Heimat die Piemont-Kirsche, sind in Minneapolis die knallroten zuckersüßen saftigen Äpfel als Wahrzeichen. So süß wie seine Melodien.

"Simpati-simpatia" hört sich an wie das Blubbern, Plätschern, Wabern und Schwingen eines Brunnens zusammen mit einem Windspiel und einem Didgeridoo, verdankt sich aber einfach Contes Kompetenz an Tasteninstrumenten. Ob Wurlitzer, OBX-Synthesizer, analoge Roland-Sequenziermaschinen - der Swing-Nostalgiker zeigte sich offen für den Wandel der Klänge! Er probierte allerlei Keyboard-Artiges und Loop-Technisches aus, und vermählte es mit seinem Klavier.

Am wunderschönen Instrument Vibraphon hört man ihn im wortlosen "The Music, All?", elegantem Underwater-Jazzpop. Die B-Seite beginnt mit einer Lobpreisung auf den Jazz, "Sotto Le Stelle Del Jazz". Das Lied legte eine seltene und unerwartbare Karriere für eine Saxophon-Klavier-Ballade hin, aber zu Recht, weil die Melodie absolut erhaben und dennoch poppig ist und Conte anmutig wie nie singt, zart, brummelig, liebevoll, zischend, lachend beim Singen, ein bisschen mit Englisch spielt und seine Lautmalereien einbaut. Der Track wurde zum Conte-Essential, taucht auf fünf Live-Alben und drei Best Ofs und als speziell in der West-BRD 1987 (drei Jahre später!) nachgeschobene Single auf. Dabei handelt es sich um eines der schlichtesten Lieder aus dem großen Katalog des Künstlers.

"L'avance" als Solo-Performance, und "Gli Impermeabili" als großes Orchesterstück, wiederum auf einem Boogie-Woogie-Beat, feiern die Schwermut. "In der heutigen Welt fehlt mir häufig die Melancholie eines [Giorgos] Seferis oder Fellini", seufzte Conte mal in der SZ. "Uns hat der Blick zurück das Leben gerettet - indem er uns ermöglichte, zu genießen. Inzwischen fehlt vielen Menschen die Zeit für ein solches sinnliches Schwelgen."

Alleine dieser Klassiker, "Gli Impermeabili", rechtfertigt den Claim der Meilensteine, dass jeder Musikfan da mal reingehört haben muss. Das lyrische Fragment mit extrem stimmungsvoller Szenerie, nur durch das Bild der Regenmäntel und die Parts, die Paolo "da-da-da-bä-bä-bä" vor sich hin grunzt, wie man das macht wenn man über etwas nachdenkt, eine Stimmung auflockert, sich selbst beruhigt, das ist alles so authentisch schlaftrunken und skizzenhaft. Andererseits sind die Harmonie-Arrangements genial, und das Lied funktioniert mit brachialem E-Gitarren-Intro genauso wie in gepitchtem oder gedimmtem Tempo, wie er live verschieden zur Geltung kam. Es transportiert immer diese Traurigkeit des Losers, dem nur Musik noch helfen kann, und im Falle des Songtexts, ein Kaffee ("scendo giù a prendermi un caffé").

Wo hört man die Musik und trinkt den Kaffee? Natürlich im Mocambo, einem legendären Jazzclub in L.A., in dem Piaf und Nat King Cole auftraten und viele Hollywood-Stars unter den Besucher*innen waren. Der Club, den es nur 1941 bis '57 gab, trieb Conte um. Als er alt genug war, dort hin zu reisen, schloss das Venue. 'Mocambo' wird bei ihm zum Namen des Betreibers einer imaginären Bar. Das Lied ist Teil eines Vierteilers, mit den Songs "Sono Qui Con Te Sempre Più Solo" (1974), "La Ricostruzione Del Mocambo" (Der Wiederaufbau des Mocambo, 1975), "Gli Impermeabili" (1984) und "La Nostalgia Del Mocambo" (2004). Immerhin, nach dem hiesigen Teil 3, benannte sich eine neu gegründete deutsch-italienische Kaffeerösterei-Kette 1984 nach Contes Fantasie-Bar.

Essenziell für den Song ist übrigens das Kazoo, ein kleines Mundstück, in das Paolo hinein singt und aus dem dann ein Saxophon-Imitat-Sound heraus kommt. Conte arbeitete damit immer wieder gerne, während er am Klavier spielte, und voller Inbrunst setzt er es auch in "Macaco" ein, wo das zehn Zentimeter kleine Teil die Hauptrolle übernimmt.

Sechs der zehn Aufnahmen finden sich auf dem Best Of "Come Di" wieder. Es ermöglicht Neuentdecker*innen ebenfalls einen guten Einstieg in den Conte-Kosmos. Seine Folge-Platte nach der hier besprochenen war die siebte, über das norditalienische Autobahn-Phänomen "Aguaplano" (1987). Sie nimmt Kurs aufs Spleenige, eine stellenweise überfordernde, trotzdem charmante Doppel-LP. Selbst sein meiner Ansicht nach schwächstes Album, "900" (1992) enthält trotzdem meinen liebsten Song von ihm, "I Giardini Pensili Hanno Fatto Il Loro Tempo": nur ein bisschen Sternenstaub-Sound und Conte von seiner fragilsten, zartesten Seite. Auch sein Spätwerk belohnt offene Ohren, man ihm keinen noch so extravaganten stilistischen Quertritt übel nehmen.

Die letzten beiden CDs folgten nach dem Tod seines Managers Renzo Fantini (mit dem er seit dem Meilenstein 1984 gearbeitet hatte). Diese Nachzügler 2014 und '16 wurden außerhalb Italiens leider nicht vermarktet und sind noch zu entdecken. Denn kaum jemand schaffte es, 17 Studioalben lang non-stop immer hochgradig inspiriert zu sein. Die Kreativität dieses Mannes wird ein ewiges Rätsel bleiben.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Sparring Partner
  2. 2. Chiunque
  3. 3. Come Di
  4. 4. Simpati-simpatia
  5. 5. The Music, All?
  6. 6. Sotto Le Stelle Del Jazz
  7. 7. L'avance
  8. 8. Gli Impermeabili
  9. 9. Come Mi Vuoi?
  10. 10. Macaco

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1 Kommentar

  • Vor einem Jahr

    Musik für Tedeschi, die eigentlich im Edelrestaurant ("Geheimtipp!") drei malerische Bergdörfchen weiter die echte Toskana atmen und erschmecken wollen, am Ende aber doch wieder in der Tourifalle am Strand landen, weil das verzogene Blag nicht auf seine Pizza Proschiutto verzichten kann.

    Kurzum: Ganz und gar wundervoll! ♥

    Ich kenne eigentlich nur die (wahrscheinlich auch noch unautorisierte) Compilation wirklich gut, die bei meinen Eltern spätestens hinterm Brenner immer auf Heavy Rotation war, liebe von der aber so gut wie jede Nummer. Besonders hängt mein Herz wahrscheinlich am gelato al limon, der ricostruzione del Mocambo, Via con me, Dal loggione und Pretend.

    Mangels Überschneidungen der Tracklist also eine schöne Gelegenheit, die hier auch mal einzutüten, grazie mille dafür und diese tolle Besprechung!