laut.de-Kritik
Nach den letzten Tönen flutet Melancholie den Film.
Review von Sven KabelitzZwei Eckpfeiler der Musikgeschichte sind die Hauptdarsteller von "Live Kisses". Auf der einen Seite steht Sir Paul McCartney aus Liverpool, Baujahr 1942 und ewiger Ex-Beatle. Auf der anderen das Capitol Studio, 1955 im Schatten des Hollywood-Signs erbaut. Es gibt wohl kaum einen besseren Schauplatz für McCartney um das Great American Songbook, dieses nicht klar definierte Sammelsurium aus großen Hits aus den 1930er bis 1950er, nochmals aufzuschlagen.
Noch einmal greift er auf die Tracks, die er bereits für "Kisses On The Bottom" ausgewählt hat, zurück. Nur "The Inch Worm" und das selbst geschriebene "Only Our Hearts" bleiben auf der Strecke. Der siebzigjährige Musiker legt seinen Höfner Bass zur Seite und übergibt das Kommando an Diana Krall und einer mit John Clayton, Karriem Riggins, John Pizzarelli, Anthony Wilson und Mike Mainieri hochkarätig besetzten Band. Er selbst konzentriert sich ausschließlich auf das Singen der Klassiker.
Dicht gedrängt sitzen sie am 9. Februar 2012 in den altehrwürdigen Capitol Studios, umgeben von einem Orchester und einer Handvoll auserwählter Zuschauer. Hinzu kommt noch eine unsichtbare Schar Kameras, die versucht, jeden Augenblick für diesen iTunes Live-Stream einzufangen. Ein für McCartney ungewohnt intimer Moment vor großem Publikum.
Die Anfang des Jahres aufgenommenen, größtenteils in schwarz weiß gehaltenen, Bilder werden von Jonas Åkerlund mit Interviews und Rückblenden ergänzt. Jedes Lied erhält sein eigenes Bouquet. Mal werden die Eindrücke per Splitscreen geteilt, mal schmückt der Text in Handschrift die Aufnahmen.
Zerbrechlich wie seine zunehmend vom Alter gezeichnete Stimme zeigt sich McCartney ganz ohne Fallnetz. Ohne die Möglichkeit, sich an einem Instrument festzuhalten, sitzt er einsam unter Menschen auf einem Hocker. So richtig weiß er auch nach all den Jahren nicht wohin mit seinen Händen, und so wirkt manch eine Bewegung etwas ungelenk. Kurz gibt er den Markus Lanz, sagt "We Three (My Echo, My Shadow And Me)" als "We Tree" an.
Zu den Gesichtern der Musiker, die mir am Ende des Films wie alte Freunde vorkommen, gesellen sich jede Menge weitere Legenden. Neben den Mitwirkenden fallen Stevie Wonder und Eric Clapton in die Lobpreisungen des Herrn Macca ein. Zudem finden sich im Bonusmaterial Johnny Depp, Natalie Portman und Gary Oldman wieder.
Selbst Neil Young läuft einmal durchs Bild. Eine beachtliche Anzahl an Stars in den Nebenrollen, an der so manche Hollywood-Produktion finanziell zu Grunde gehen würde. Die Interviews geraten aber leider viel zu lieblich. Mehr, als das McCartney ein erstklassiger Musiker ist, erfahren wir nicht. Würze, ein paar nette Anekdoten, oder ein Lacher gehen den Kommentaren leider vollkommen ab. So wird aus einem kurzen Moment, in dem Stevie Wonder vier Noten lang "She Loves You" anspielt, bereits ein Höhepunkt.
Im Bonus-Material versteckt sich der wohl packendste Moment. Das Video zu "My Valentine". Ein ruhiger und erhabener Film in schwarz weiß, in dem Natalie Portman und Johnny Depp den Text in Gebärdensprache wiedergeben. Nur zwei Gesichter, Mimik und Körpersprache. Entwaffnende Direktheit.
Im ansehnlich gestalteten Booklet führt Krall-Ehemann Elvis Costello ein mehrseitiges Skype-Interview mit Paul McCartney. "You got a pretty good piano player there, I think, in your band – good looking girl!" flachst der einzig wahre Elvis gleich zu Beginn.
Nach den letzten Tönen flutet Melancholie den Film. McCartney verlässt die Studios in Richtung Nacht, die von den Leuchtbuchstaben des Capitol-Zylinders durchbrochen wird. Viele Fans verehren auch weiterhin den früh verstorbenen John Lennon als Heiligenfigur. Ein ewiger Messias, mit langen Haaren und Nickelbrille in Marmor gemeißelt. McCartney muss sich derweil mit dem herumschlagen, das auf die meisten von uns zukommt. Das Altern. Auch wenn "Live Kisses" gelegentlich zu sehr ins Easy Listening-Genre abdriftet, gelingt ihm dies mit umfassender Würde.
2 Kommentare
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Sympathisch isser ja, auch wenn er nach den Beatles keinen einzigen brauchbaren Song mehr geschrieben hat. Zumindest gemessen an seinem Werk mit der Band.