laut.de-Kritik
Zur Kasse, Fan!
Review von Michael SchuhUnd ewig sprudelt der Quell der Nostalgie im Hause R.E.M. Und warum auch nicht? Das vor sieben Jahren aufgelöste Quartett (am Ende Trio) zählt nach wie vor zu den größten Indie-Rock-Bands, die die 80er Jahre hervorgebracht hat. 31 Jahre Karriere, da bleibt naturgemäß allerhand Material liegen.
Nun könnte man argumentieren, dass ein Set mit raren Studio- und Liveaufnahmen bei der britischen BBC über den Zeitraum von 25 Jahren vielleicht nicht zwingend notwendig ist, angesichts der 2014 endlich veröffentlichten "MTV Unplugged"-Sessions sowie der erschlagenden Karriere-DVD "REMTV" (Dauer: 891 Minuten). Doch wer so spricht, ist kein Sammler. BBC-Sessions zählen zu den beliebtesten Liveaufnahmen in Fankreisen überhaupt, verständlich also, dass R.E.M. hier auch ihr Archiv öffnen und zwar in verschiedenen Formaten bis hin zu einer 8CD/DVD-Box.
Das vorliegende Doppelalbum auf Vinyl gehört zu den kleinsten Zusammenstellungen und umfasst lediglich 20 Songs, gegenüber 34 auf der Doppel-CD. Eine seltsame Entscheidung, da wohl ein Großteil der R.E.M.-Komplettisten, an die sich "At The BBC" in erster Linie richtet, gerne für ein teureres Dreifachvinyl mit allen 34 Songs in die Tasche gegriffen hätten.
Immerhin werden LP-Käufer beim Booklettext gleichwertig behandelt: Ist doch interessant, dass Thom Yorke bei "E-Bow The Letter" 2004 in London für Patti Smith eingesprungen ist, obwohl die Version gar nicht auf der Platte enthalten ist. Pech gehabt.
"World Leader Pretend" eröffnet den Reigen akustisch und gleich mit der typischen Schwermut, die die ruhigen Momente der Band kennzeichnet. "Radio Song" und "Losing My Religion" stammen ebenfalls von dieser 1991er Session. Vom 1998er Album "Up" ist mit "Lotus" einer ihrer unterschätztesten Songs dabei, der ganz ohne Orgel eine neue Faszination entwickelt, ebenso wie "At My Most Beautiful", im Original eine Pianoballade. "Bad Day", 2003 für die Compilation "In Time: The Best of R.E.M. 1988–2003" aufgenommen, knüpft an den alten 80er Verve an, zählt letztlich aber zu den schwächeren R.E.M.-Tracks.
Die vier Songs "What's The Frequency, Kenneth?", "Drive", "Half A World Away" und "Pop Song 89" stammen vom Auftritt in Milton Keynes 1995, während der "Monster"-Tour. Fünf Monate zuvor erlitt Drummer Bill Berry auf der Bühne in Lausanne eine Hirnblutung mit glücklicherweise gutem Ausgang. Show must go on: In Milton Keynes war Berry wieder fit, zumindest bis er 1997 wegen Motivationsproblemen die Band verlässt.
Ähnlich wie auf "Monster" geht die Band hier auch laut und deftig zur Sache. Atmosphärischen Songs wie "Drive" ist das nicht so förderlich, aber die euphorischen Reaktionen bei "Half A World Away" zeichnen den Stellenwert der Band in den 90ern gut nach. Allein die Vorbands an den beiden Tagen in Milton Keynes: Blur (erster Abend), Radiohead (zweiter Abend). Bei anderen Gigs dieser Tour: Oasis, The Cranberries, Faith No More, PJ Harvey. Die ehemals sympathische kleine Indie-Band aus Georgia war zur Stadionband mutiert und kurz davor, den mit 80 Millionen Dollar höchstdotierten Plattenvertrag der Musikgeschichte für weitere fünf Studioalben abzusegnen.
"It's The End Of The World As We Know It (And I Feel Fine)", 1999 frenetisch bejubelt vom Glastonbury-Publikum vor der Pyramid Stage, definitiv auch ein Höhepunkt der Band-Karriere. Wüsste man nicht, dass außer diesen 20 BBC-Aufnahmen noch weitere existieren, wäre man nun ein glücklicher Vinylsammler. Für Nuggets wie die '98er Versionen von "Country Feedback" und "Perfect Circle" oder das Editors-Cover "Munich" muss man jedoch auf CD oder Streaming ausweichen.
1 Kommentar
Lotus ganz ohne Orgel?