laut.de-Kritik
Subwoofer-Dancehall für eine junge, sportliche Zielgruppe.
Review von Philipp Kause"10" ist ein doppelter Gimme Five-Ruf im festgefahrenen Dancehall. Spice ist eigentlich seit Jahren schon die heimliche Queen der körperlichen und basslastigen jamaikanischen Musik. In "Send It Up" betont sie Bauchtanz und Weed-Konsum "pon di road". Auf die Straße gehören diese Bubble-Beats, sei es aus den Subwoofern der Stereoanlage im Auto tönend, sei es einfach so 'inna de yard', im Hof, in der Nachbarschaft, bestenfalls in der halb-überdachten, halb besandeten Dancehall Area.
Mit Spice verschiebt sich jetzt etwas: Der Edel-Club wird hoffähige Kulisse für einen Clip-Dreh, bei "Send It Up" ein Zwitter aus Astronauten-Training und normaler Muckibude; trotzdem verkörpert die Künstlerin das Dreckige, Rotzige des Genres. Die Sing-Jane und Tänzerin verleugnet die Herkunft nicht: Ihre Musik vernetzt sich zwar allmählich auch mit der Londoner Grime-Szene, bleibt aber im Kern karibisch.
Wie es das viral gegangene Video zu "Go Down Deh" feat. Shaggy und Sean Paul in Flackerlicht von Pink bis Neongrün mit Leuchtröhren schön vorführt, manifestiert der Sound von Spice ultimativ ausgelassene Solo-Tänze, die doch Körper an Körper klebende Moves durchspielen. "10" umfasst eine circa zehn Jahre währende Vorarbeit auf ein Album hin, wobei man sich fragt, wann in grauen Vorzeiten der letzte große lupenreine Dancehall-Longplayer erschien. War es vielleicht Beenie Mans "Concept Of Life" vor 15 Jahren, dann war damals schon Spice als Gast vertreten.
Heute erreicht "Go Down Deh" auch dank der interessanten Kombi aus den wohl vertrauten Stimmen Shaggys und Seans zusammen mit der fröhlich-resoluten Black Power-Female Empowerment-Tanzaktivistin 25 Millionen Streams auf YouTube, zählt man Clip und Late Night Show-Performances zusammen. Die drei landeten beim US-Talk Host Jimmy Kimmel, während wir auf Nura bei Markus Lanz wohl warten müssen, wo Stefanie Kloß schon das äußerste an Pop-Diskurs darstellt. Spice läuft sich also zu einer US-bekannten Größe hoch, bloß: Was tut sie substanziell, um diesen Trend zu unterlegen?
Da wäre einmal die hochklassige Produktion aller Tracks. Zum Vergleich: Über Koffees Arbeit mit Walshy Fire kann man sagen, was man will; etwas Künstliches haftete dem an. Die Musik auf "10" speist sich erheblich weniger aus EDM- und Moombahtrap-Elementen, kommt jedoch, wie ein Blick auf TikTok zeigt, gerade bei der Zielgruppe 'jung-weiblich-modebewusst-sportlich-digitalaffin' an. Womöglich, weil sich der Sound mit so melodiösen wie zeitlosen Konventions-Riddims aufwartet.
"So Mi Like It" hat schon über sieben Jahre auf dem Buckel, reißt aber als hörenswerter Dancehall-Classic mit. Höhepunkt ist die Beschleunigung und Verlangsamung der Stimmen am Ende, der Minnie Maus-versus-Monster-Effekt über minimaler Instrumentierung. "10" wirkt ganz allgemein spärlich instrumentiert, verzichtet auf Brimborium, ist im weitesten Sinne digitales Bass Bouncing ("Top", "Frenz", "Fit") und kompaktes Highspeed-Toasting ("Love Her", "Different Sh*t (feat. Melissa Musique)", "S.P.I.C.E."), niemals übertrieben. Oft zugunsten von viel Melodie, mit Rocksteady-Vibes in "Don't Care", Pop-Avancen in "On Your Mind (feat. Olaf Blackwood)" und der tollen sehnsuchtsvollen Hymne "Bad Girl (feat. Shaggy)", dem Vorzeige-Stück der Platte. Von erotisch dargebotenen Afrobeats in "Nitey" profitiert die Tracklist, die als pralles Mixtape durchflutscht.
Punktuell greift man zu perkussiv unterlegtem Protest. "Po Po (feat. Nicho)" mit Shaggy, seit kurzem wieder in seiner Rolle als Producer (er hat in den 90ern für einige damalige Newcomer ein paar Singles betreut), bespricht nochmal, dass man sich von einer rassistisch motivierten Staatsgewalt nicht das Geringste bieten lasse und findet dafür Reime, die sitzen: "We need a lot to reinvent, to represent and to prevent / Di killing of di innocent, man, woman, adolescent / 'Cause Black lives matter, we ah nuh accident". Mitsamt dem ansprechenden Artwork und dem für heutigen Dancehall überraschenden Verzicht auf Autotune legt die Jamaikanerin zusammen mit weiteren alten Produktionshasen wie Tony Kelly (größter Hit: Sean Pauls "Like Glue", 2002) ein sehr gutes Debüt hin.
Noch keine Kommentare