laut.de-Kritik

Der fusionistische Stilmix entführt in eine exotische Welt.

Review von

Ab Ende der 80er-Jahre bildeten sich innerhalb der elektronischen Musik diverse Strömungen wie Acid- und Progressive House, Trance, Ambient Techno und IDM heraus. The Future Sound Of London saugten 1994 auf ihrem Doppelalbum "Lifeforms" all diese unterschiedlichen Einflüsse auf, nahmen aber auch einige Entwicklungen in der elektronischen Musik vorweg.

Hinter The Future Sound Of London stecken die beiden Musiker Brian Dougans und Garry Cobain, die sich Mitte der 80er-Jahre an einer Universität in Manchester kennenlernten. Dougans versuchte sich damals schon seit Längerem an der Produktion elektronischer Tracks und landete 1988 unter dem Pseudonym Humanoid mit "Stakker Humanoid" einen Acid House-Hit in UK.

Im Anschluss arbeiteten die zwei unter wechselnden Projektnamen zusammen. 1991 brachten sie erstmalig als The Future Sound Of London ein Album heraus. Das trug den Namen "Accelerator" und enthielt mit "Papua New Guinea", das mit einem geloopten Vocal-Sample von Dead Can Dances "Dawn Of The Iconoclast" und der Bassline von Meat Beat Manifestos "Radio Babylon" aufwartete, eine Single, die es bis auf Platz 22 der britischen Singlecharts schaffte.

Der Erfolg von "Papua New Guinea" rief Virgin Records auf dem Plan, die nach elektronischen Acts suchten und sich The Future Sound Of London 1992 schnell unter den Nagel rissen. Das Label gab dem Projekt eine Vorauszahlung von 75.000 Pfund für Equipment und volle künstlerische Freiheit. Das Geld investierten Dougans und Cobain in verschiedene Akai S1000-Sampler und anderes Equipment.

Im Anschluss widmeten sich die beiden ambienten Texturen zu. Die Musik sollte komplexer werden. Erstes Ergebnis dieser Neuausrichtung bildete 1993 "Tales Of Ephidrina", das Dougans und Cobain unter dem Namen Amorphous Androgynous veröffentlichten.

Als erste Single von "Lifeforms" schickten The Future Sound Of London im selben Jahr "Cascade" voraus, die sich mit mysteriösen, tropisch geprägten Sounds, atmosphärischen ambienten Klängen, viel Geflöte und minimalistischem Klacken, das schon den Durchbruch von Glitch innerhalb der elektronischen Musikszene erahnen ließ, ganz der neuen Komplexität verschrieb. Die Single bestand, wie auch die Folgesingle "Lifeforms" nicht aus einer klassischen A- und B-Seite. Vielmehr hatte das Projekt die Tracks zu ganzen elektronischen Trips weitergesponnen. Das Album kam schließlich am 23. Mai 1994 auf den Markt.

Das lebt vom unkonventionellen Gebrauch verschiedener Percussions, die sich mit hypnotischen Ambient-Texturen vermischen. Bestimmte Motive und Samples, Naturgeräusche und exotische Klänge, die der Platte ein organisches, natürliches Feeling geben, ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Scheibe. Das eigentümliche Albumcover und die Bilder im Booklet, die eine futuristische Welt zeigen, die aus steinigen Naturlandschaften, Wasserfällen und hexenähnlichen weiblichen Wesen besteht, runden die Musik visuell ab.

Nicht selten kennzeichnet die Songs ein besonderer Spannungsaufbau, wie "Ill Flower" beweist, das mit bedrohlicher Elektronik, ätherischen Keyboardmelodien und Samples nach und nach die Intensität anzieht und in einer noisigen Explosion mündet. Danach findet man sich in "Flak" in psychedelischen Sphären wieder. Dabei begegnet man lebhaften, kreisenden Klängen, die eine Vorahnung vom Goa- und Psytrance-Boom in den Folgejahren geben, sowie Sound Bytes von Ozric Tentacles und King Crimsons Robert Fripp, der zudem noch ein paar Gitarrentexturen beisteuerte.

Nach dem kurzen Intermezzo "Bird Wings" geht es schließlich mit "Dead Skin Cells" mit entschleunigten Rhythmen, sakralen Keyboards, Vogelgezwitscher und wuchtigen Bässen in trippige Gefilde. Das Titelstück schließt danach mit straighter 4/4, sich wiederholenden Dance-Beats, Getrommle sowie der traumhaften Stimme von Cocteau Twins' Elizabeth Fraser noch am Ehesten an die technoide Eingängigkeit von "Accelerator" an.

In "Eggshell" und "Among Myselves" tritt wieder mehr ein besonderer Spannungsaufbau in den Vordergrund. Die letztgenannte Nummer steigert sich ebenso wie "Ill Flower" bis zur Explosion. Danach halten sich mit dubbigen Bässen, Sprachsamples, Naturgeräuschen, IDM-Einschüben und der schönsten Melodie des gesamten Albums Komplexität und Eingängigkeit die Waage.

"Domain" leitet mit hymnischen Keyboardmelodien und Windgeräuschen die zweite Hälfte des Doppelalbums opulent ein. In "Spineless Jelly" und "Vertical Pig" deutet sich mit lautstarker, trippiger Elektronik und vordergründigen Samples die im Vergleich zu "Lifeforms" noch überwältigendere Klangfülle von "Dead Cities" schon an, mit dem The Future Sound Of London 1996 ihren fusionistischen Stilmix auf eine neue Spitze trieben.

Danach schippert "Cerebral" mit Wasserfallgeplätscher, sparsamen Akustikgitarren-Tönen, panflötenartigen Einschüben und einem unaufdringlichen Gesangssample durch ruhige Gewässer. "Life Form Ends" treiben rhythmische Percussions an, während hypnotische Elektronikklänge für trancige Nuancen sorgen. Trancehaft gerät auch "Omnipresence", das komplexe Rhythmen und weiche, housige Keyboardtexturen durchziehen. "Room 208" führt im Anschluss mit einem bouncigen Beat, metallischen Geräuschen und einer markanten Melodie mehr in Richtung IDM.

"Elaborate Burn" leitet mit eigenartig gespenstischen Sounds in das große Finale "Little Brother" über. Das greift mit exotischer Percussion, trabenden Bässen, schamanistischen Einschüben, Flöten, Sprachsamples und allerlei Naturgeräuschen die rituelle Dubstep-Ästhetik Shackletons um rund zehn Jahre vorweg.

Für das Duo bedeutete die Platte den kommerziellen Höhepunkt. Sie stieg in Großbritannien bis auf Platz sechs der Album-Charts und erreichte Silber-Status. Die Scheibe beeinflusste unter anderem das schwedische Psybient-Projekt Carbon Based Lifeforms, dessen Name auf den Albumtitel anspielt. In Deutschland haben The Future Sound Of London dagegen nie die Anerkennung geerntet, die sie verdient haben.

Mittlerweile hat sich das Projekt hauptsächlich der Archivpflege verschrieben. Das Hauptaugenmerk liegt mehr auf Amorphous Androgynous, die 2020 zusammen mit Van Der Graaf Generators Peter Hammill auf "We Persuade Ourselves We Are Immortal" in opulente Prog-Rock-Sphären vordrangen.

Der "From The Archives"-Reihe und der "Environments"-Reihe spendierten The Future Sound Of London seit Mitte der 00er-Jahre zahlreiche Teile. Die Compilations setzen sich aus Raritäten, Remixen, unveröffentlichten Songs aus ihrer Pionierphase Anfang bis Mitte der 90er-Jahre, aber auch aus damals neuen Stücken zusammen. Zudem hat das Projekt um Tracks von "Lifeforms" und "Dead Cities" ganze Alben gesponnen, darunter auch "Cascade".

Letzten Endes ist "Lifeforms" ein absolut unterschätztes Meisterwerk, das gegenüber Klassikern ambienter Musik in den mittleren 90ern wie Global Communications "76:14", Autechres "Amber" oder Orbitals "In Sides" kein bisschen zurückfällt und in jede gut sortierte elektronische Plattensammlung gehört.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Cascade
  2. 2. Ill Flower
  3. 3. Flak
  4. 4. Bird Wings
  5. 5. Dead Skin Cells
  6. 6. Lifeforms
  7. 7. Eggshell
  8. 8. Among Myselves
  9. 9. Domain
  10. 10. Spineless Jelly
  11. 11. Interstat
  12. 12. Vertical Pig
  13. 13. Cerebral
  14. 14. Life Form Ends
  15. 15. Vit
  16. 16. Omnipresence
  17. 17. Room 208
  18. 18. Elaborate Burn
  19. 19. Little Brother

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