laut.de-Kritik

Seltene Aufnahmen und ein Crossover-Flirt.

Review von

"Standing by the elevator / feeling gloomy and down"- ein starkes Bild, an einem Aufzug, die Tür geht auf, Sesam, öffne dich: "Then the elevator opened / and I saw her standing there." Es erscheint eine Person, die man womöglich nur einmal kurz zufällig sieht und deren Aura und Schönheit alles überstrahlen. Ray Davies von den Kinks sinnt über sein Geflashtsein nach: "And I thought I'd seen her somewhere before / on a cover of a magazine." Wie reagiert man da? - Doch, ganz einfach: Sie wird aktiv. "But she actually smiled at me and said : 'Hi-ya handsome, have a good day!'" Und dann fragt Ray, ob das Ganze nicht sowieso nur ein Traum sei - "Only A Dream"? Diese wenig bekannte Geschichte, eine Single von 1993, hören wir hier auf einem ungewöhnlichen Best-Of in einer raren, unveröffentlichten Akustikfassung, und ich lege sie allen Englischlehrer:innen als Beispiel eines modernen Gedichtes mit vielen Ebenen, gut sitzenden Stilmitteln und einem spannenden inneren Monolog, der eine Kaskade an Bildern im Kopf auslöst, ans Herz.

Die Gebrüder Dave und Ray Davies und Schlagzeuger Mick Avory, von links nach rechts auf dem Cover, zeigen uns nun, wohin ihre Werkschau-Reise sie von "The Journey - Part 1" über "Part 2" führt, nämlich bis zum finalen "Part 3". Tatsächlich rühren sie an eines der großen Tabus der Rockgeschichte, das ein bisschen ans "hell freezes over"-Zitat der Eagles erinnert: Mitte 1996 endete mit einem Knall in Buchform die Geschichte der Kinks, obwohl sie mit "Phobia" eines ihrer reichhaltigsten Alben vorgelegt hatten und es bei allem Streit noch schafften, damit live aufzutreten. "Only A Dream", "Scattered", "The Informer" und das Titellied "Phobia" waren Songs daraus, und sie performten sie in einem Set zusammen mit ihren großen Hits "Sunny Afternoon" (1966) und "You Really Got Me" (1964) in der Royal Albert Hall, meistens Ort der Blueser und Jazzer. Das ganze Konzert ist hier auf einer CD enthalten.

Wie weder aus "The Journey - Part 1" noch "2" klar hervorgeht, wurzeln The Kinks im Blues, wenngleich sie sich davon schnell emanzipierten, anders als die Stones oder Cream, die daran festhielten. Fakt ist aber, dass Ray den Drummer über eine Zeitungs-Annonce für eine Rhythm'n'Blues-Crew anwarb. "The Journey Part 3" zeichnet den weiteren Weg von 1976 bis 1993, der in der Anthologie noch fehlte, jetzt auch nicht so klar oder logisch oder chronistenhaft nach, zumindest nicht so, wie ich ihn in Erinnerung habe und wie er auf einer alten Kassetten-Compilation aus dem Hause Edel mal angedeutet wurde, der "Kink-Size Collection", sowie im Box-Set "Picture Book". Das Konzept der "Journey"-Reihe besagt nun, dass die Musiker selbst ihre Geschichte erzählen, in den ersten beiden Teilen geordnet nach Textthemen, zum Beispiel 'Schule/Schülersein', was sich aus der autobiographischen Platte "Schoolboys In Disgrace" (1975) ableitete. Alles danach unterliegt dem Einschnitt eines Plattenfirmenwechsels und folgt jetzt - theoretisch - bei "Part 3". Diese lange und quantitativ fruchtbare Phase deckt die Releases bei den Firmen Arista, London Records, Metronome, MCA und Columbia ab, durch die Bank renommierten Größen auf dem damaligen Markt. Ironie: Bereits 1971 war die Indie-Gruppe flugs zum Major-Act geworden, und in einer Zeit als es im UK angesagt war, bei kleinen Labels zu veröffentlichen, hielt sie mit Charts-orientierten Companies dagegen. Von allen die Lizenzen zu bekommen, dürfte für die BMG eine kolossale Aufgabe gewesen sein. Möglicherweise ist das Ergebnis genau deswegen so halbherzig geworden.

"Sleepwalker", der Song übers Schlafwandeln, führt als erstes aus dem scharfen Sozialrealismus und den Alltagsanekdoten hinaus ins Reich des Unterbewussten. Zur Parasomnie gesellt sich der Eskapismus in "A Rock'n'Roll Fantasy" aus dem "Misfits"-Album, dessen schlecht gealtertes Softrock-Titellied man hier zuallerletzt vermisst hätte. "A Rock'n'Roll Fantasy" ist neben "Waterloo Sunset" und "Days" eines der wenigen Stücke geblieben, die in hiesigen Oldies-Formaten heute noch gelegentliche Chance auf Radio-Airplay haben. Und zu Recht: Die Geschichte über Musikfreaks, die sich zur Stimmungsregulierung völlig hinter ihrer Beschallung verstecken und von der Welt draußen zurück ziehen, ist musikalisch bildschön verpackt. "Dan is a fan, and he lives for the music..." Natürlich geht auch dieses Lied auf die feinsinnige Beobachtungsgabe der Davies-Brüder zurück, denen die tatsächliche Welt die besten Stories schrieb.

Während der "Low Budget"-Titelsong trotz seiner Mittelmäßigkeit, als unterdurchschnittlicher Kinks-Track, zwei Mal vertreten ist (Live- und Studio-Take), geht bei "Living On A Thin Line" im angedeuteten Marsch-Rhythmus weitaus mehr die Post ab. "There's no England now", resümiert Dave, und auf dem "Word Of Mouth"-Album haben die Londoner wieder deutlich in ihre Rolle der Gesellschafts-Kommentatoren zurück gefunden. Die Smash-Nummer "Better Things" breitet in Pub-Rock-Atmosphäre Zukunftshoffnung aus. "Around The Dial" ist ein straighter Classic Rock-Tune, und auch in "Do It Again" regieren die Gitarren. Im Videoclip ist ein Gewitter um die Riffs herum montiert, das man auch mit Blitz und Donner hören kann. "The days go by, and you wish you were a different guy", lautet die Losung des Doktor Jekyll-Mister Hyde-Plots in diesem Song. Ray erzählt von materiellen Aufstiegswünschen, aber als diese in der Wirklichkeit eintreten, setzen Reue und Sehnsucht nach einem einfacheren Leben ein, doch der Held des Lieds kann aus der Sucht des Größenwahns und Angebens nicht mehr so recht heraus. Seinen üppigen Wohlstand vermag er nicht zu genießen: "The voices in your sleep keep shouting in your head." - Bemerkenswert ist, dass Schlagzeuger Avory im Interview mit der Fanpage der Cover-Band Kast Off Kinks einräumte, Dave sei für ihn ein launischer Mister Hyde gewesen.

Interessantestes Fundstück im Kinks-Archiv ist die Mash-Up-Fortsetzung der Lola-Story, die eine halb-neue Komposition mit den Harmonien und Riffs von "All Day And All Of The Night" zur Geschichte von Transvestit "Lola" aus dem Hit von 1970 kreuzt: "Destroyer" wandelt Ideen und Versatzstücke dieser alten Nummern reizvoll ab. Der Videoclip, ein Zeichentrick, steckt voller Paranoia.

Stilistisch demonstrieren die Proto-Punker, dass sowohl die '77er-Punk Revolution wie auch all die inzwischen neu hinzugetretenen Ausdrucksformen Metal, Funk, Reggae, Jazzrock-Fusion und Hip Hop nicht spurlos an ihnen vorüberzogen. Spurenelemente aus all diesen Genres mischen sie in "Destroyer" hinein, zitieren also sowohl sich selbst kongenial als auch das, was außen herum passierte.

Das Konzert-Intro "One Of Our DJs Is Missing" verwandelt "You Really Got Me" in eine Fanfare, in die aber auch noch andere Klassiker der Gruppe verwurstet sind. Der weitere Einstieg in der Royal Albert Hall verläuft mäßig spannend. Den Hit "Apeman" sowie die damals 1993 brandneuen Stücke "Phobia", "Only A Dream" und "Scattered" führt das Quintett bei seinem London-Heimspiel als Acoustic-Set auf. Wenn es Ansagen gibt, sind sie gut und erhellend, allzu viele sind es aber nicht. Der Applaus läuft manchmal ewig durch, an anderen Stellen sind die Abblenden radikal. Ein Muster, nach welchen Kriterien der Mitschnitt zusammen gebaut wurde, ist nicht erkennbar; eine simple One Take-Lösung ohne Schnitte traute man sich nicht zu. Es springt nicht sonderlich viel vom Gig über, gleichwohl er ausverkauft war. Keyboarder Mark Haley suchte übrigens nach diesem Auftritt das Weite. Bevor das Publikum "Death Of A Clown" grölen darf und dort ein bisschen mehr Stimmung aufkommt, die Combo dann ihre Greatest Hits jeweils anspielt und schließlich das warme "Days" - einst ohne Keyboards 1968 am Mellotron entstanden - in einen noch wärmeren Tasten-Tune umwandelt, findet ein echtes Highlight statt. Eine XL-ausgedehnte Fassung von "I'm Not Like Everybody Else" erläutert, wieso The Kinks auch innerhalb ihrer Rock'n'Roll-Gegenkultur wiederum für alles Alternative standen.

In Erinnerung hatte ich sie gerade in ihrer zweiten Karrierehälfte 1977 bis '93 als besonders alternativ und noch weitaus mehr, als das hier herüber kommt. Die Geschichte geht so: Die Band versinkt in der kommerziellen Bedeutungslosigkeit, verbirgt aber hinter Konzept-LPs wie "Sleepwalker" oder "Misfits" - mit seltsam psychedelischem Plattencover samt verzogenen, Salvador Dalí-artigen Gesichtern - ausgesprochen gute rote Fäden und auch viele ihrer besten Songs, während insbesondere "Low Budget" den Weg in die von Dave präferierte Classic Rock-Richtung weist. Mit Rock-Riffs will der Band ein Comeback in den USA gelingen, in der sie zu ihren großen Hit-Zeiten mit einem Auftrittsverbot belegt war. Sie schätzt aber den Markt verkehrt ein, und schließlich werden Anfang der 1980er ihre cheesy'esten Nummern aller Zeiten, "Come Dancing" und "Don't Forget To Dance" die wahren Hits.

Ray übernimmt eine Schauspielrolle im Musical-Film "Absolute Beginners", einer Romeo-und-Julia-Geschichte, zu der Bowie das Titelstück macht. Ray singt im Film, in der Rolle des Brautvaters, den wunderschönen Novelty-Jazzpop "Quiet Life" (fehlt hier leider). Er begeht damit erstmals Solo-Pfade. Das ewig angekündigte Solo-Album von Dave erscheint nie. Die Band beugt sich aber seinem Wunsch nach Hardrock-inspirierten Tunes und geht mit Nummern wie "Give The People What They Want" (die hier fehlt) in der Poser-Glamrock-Szene fremd. Mit "UK Jive" leistet Ray einen augenzwinkernden Beitrag zur Völkerverständigung zwischen London und Johannesburg und kommentiert die Apartheid ohne sie einmal zu nennen, zwischen den Zeilen mit einem pfiffigen rhythmischen Statement - cool, fehlt aber. "War Is Over" (fehlt leider auch) scheint ebenso subtil den Zusammenbruch der Weltordnung des Kalten Kriegs zu kommentieren, wobei die Bandmitglieder im zerbombten London groß wurden. "Think Visual" (große Lücke hier) frönt Rays Broadway-, Music Hall- und Vaudeville-Leidenschaft, die sogar auf dem finalen Album "Phobia" nochmal zum Vorschein kommt.

Diese Geschichte erzählen die Kinks selbst jetzt deutlich anders, so weit überhaupt eine erkennbar wird: "Catch Me Now I'm Falling" und "(Wish I Could Fly Like) Superman" aus "Low Budget" führen ohne große Umschweife zu Daves politikerskeptischem "Living On A Thin Line". Die politische Schiene ließe sich zwar gut weiter verfolgen, etwa mit dem bösen After-Punk-Stück "Young Conservatives" (fehlt) oder der Technikkritik "State Of Confusion" (fehlt) bis zur (genauso weggelassenen) Darstellung Margaret Thatchers in "Dear Margaret" als kalt, geizig und Aktienmarkt-gesteuert, interessanter Weise verfasst von Dave, der auch in den Achtzigern wieder selten beim Songwriting zum Zug kam. Alle diese und weiteren innen- wie weltpolitischen Songs spart man aus, ebenso Erfolge wie das schnuckelig-schwelgerisch vibende "Don't Forget To Dance" (Platz 16 in den USA) oder die EP "Did Ya" (Top 50) samt smartem Titellied, und auch ganze Alben überspringt diese Werkschau, obwohl sie besser waren als ihr Ruf oder aus übertriebener Selbstkritik nun unter den Tisch fallen. Aber dann ist es keine Anthology, sondern eine Themenverfehlung.

Immerhin, "Destroyer" als musikalisches Experiment und Crossover-Flirt findet statt. Das ist ein Pluspunkt. Ansonsten spielen offenbar weder kommerzieller Stellenwert, Qualität, Innovationsgehalt, Chronologie, Vollständigkeit, Rhythmusvielfalt noch herausragende Texte eine Rolle bei der Selektion. Den meisten Remasters lässt sich kein technischer Unterschied zu den Originalen anmerken, und das Konzert durchleidet fade Phasen, gleichwohl die schiere Erhältlichkeit jetzt schon mal gut ist. Überwiegend präsentiert sich die Band auf dieser Doppel-CD mit AOR-Songs, mit denen sie nichts falsch machen kann und doch daneben tritt, statt ihre Mannigfaltigkeit und Mainstream-Ferne nochmal mit aller geballten Wucht aufzutischen. Mit "Part 3" endet diese Trilogie. Mit dem letzten Statement Mick Avorys in einem Interview mit AllMusic sind die optimistischen Gerüchte der Vorjahre entwertet, in denen es teils um laufende Aufnahme-Sessions für ein Comeback ging. Er habe aber den Eindruck, Dave wolle zwar den Namen The Kinks wieder beleben, aber mit irgendwelchen Musikern und keinesfalls mit ihm.

Trackliste

CD1

  1. 1. Catch Me Now I'm Falling
  2. 2. (Wish I Could Fly Like) Superman
  3. 3. A Rock'n'Roll Fantasy
  4. 4. Sleepwalker
  5. 5. Living On A Thin Line
  6. 6. Come Dancing
  7. 7. Around The Dial
  8. 8. Do It Again
  9. 9. Better Things
  10. 10. Destroyer
  11. 11. Low Budget
  12. 12. Misfits

CD2 Live At Royal Albert Hall 1993

  1. 1. One Of Our DJs Is Missing
  2. 2. Till The End Of The Day
  3. 3. Where Have All The Good Times Gone
  4. 4. Low Budget
  5. 5. Apeman
  6. 6. Phobia
  7. 7. Only A Dream
  8. 8. Scattered
  9. 9. Celluloid Heroes
  10. 10. I'm Not Like Everybody Else
  11. 11. Dedicated Follower Of Fashion
  12. 12. The Informer
  13. 13. Death Of A Clown
  14. 14. Sunny Afternoon
  15. 15. You Really Got Me
  16. 16. Days

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3 Kommentare

  • Vor 6 Stunden

    Disc ist ein wenig mager, Platz wäre genug für mehr. Die Jahre 77-83 hatten durchaus ein paar Perlen zu bieten, die hier fehlen (Heart Of Gold, Long Distance). Am Ende führt nichts an der 1998er Edition von State Of Confusion vorbei - leider nur second hand erhältlich. Der Streaming-Version fehlen die Bonustracks.

  • Vor 5 Stunden

    PS: Dear Margaret ist vom Album UK Jive, veröffentlicht 1989 auf MCA. Dieses Album und dessen Vorgänger Think Visual (mit dem großartigen "Lost And Found") sind hier nicht berücksichtigt.

  • Gerade eben

    Schade eigentlich, UK Jive ist immer noch mein Lieblings-Kinks-Album. Verglichen mit all den 70er Kinks-Konzeptalben gefallen mir die straighten 80er AOR-Kinks grundsätzlich deutlich besser.