laut.de-Kritik
Musikalisch kommt kein 1995er Hip Hop-Highlight an diese Platte heran.
Review von David Hilzendegen11 Studioalben in 18 Jahren haben The Roots veröffentlicht, davon mindestens neun Volltreffer. Und selbst die vermeintlich schwachen Platten fallen nur in Relation ab, für andere Bands wären "Rising Down" und "The Tipping Point" absolute Hausmarken. Die Frage ist also nicht, ob die Truppe aus Philadelphia einen Meilenstein erhält, sondern welcher Teil der Diskographie für diese Würdigung herhalten darf.
Für "Things Fall Apart" spräche die Single "You Got Me" – neben vielen weiteren Klassikern wie "The Next Movement" oder "Dynamite" – und damit der erste große Schritt ins Rampenlicht einer noch breiteren Öffentlichkeit als der internationalen Hip Hop-Szene. "Phrenology" markierte 2002 den endgültigen Durchbruch, "The Seed 2.0" ist noch zehn Jahre nach Veröffentlichung ein Tanzflächenfüller. "Game Theory" erreichte diese Klasse nicht ganz, "How I Got Over" und "Undun" sind zu jung.
Im Laufe der Zeit nahm die mittlerweile in der Tat Legendary Roots Crew eine bemerkenswerte Entwicklung an. Zuletzt eher den Singern und Songwritern zugeneigt, standen zwischenzeitlich Gäste wie Erykah Badu, Jill Scott oder Cody Chesnutt beispielhaft für die Souleinflüsse der Kombo um Mastermind Questlove. Der Funk war ohnehin immer immanent, an den Rändern der "Phrenology" bahnten sich gar Rock und Punk den Weg.
Zu Beginn stand jedoch der Jazz: "Organix" aus dem Jahr 1993 und sein Nachfolger zwei Jahre später, dessen Verwandtschaftsverhältnis schon im Intro geklärt wird: "You are all about to witness some organic Hip Hop-Jazz!" "Do You Want More" nannte er sich, gefolgt von einer Horde Satzzeichen: ?!!!??! Es konnte sich nur um eine rhetorische Frage handeln.
Wer die 75 Minuten voll Groove und Spielfreude hinter sich gebracht hat, dürfte kaum umhin kommen, die Play-Taste ein weiteres Mal zu betätigen. Denn Durchhänger hat "Do You Want More?!!!??!" ebenso wenig wie echte Highlights. Vielmehr schwebt die Scheibe konstant auf einem Niveau, das selbst in einem ereignisreichen Jahr wie 1995 heraussticht.
Und das will einiges heißen, schließlich eröffnete "Do You Want More?!!!??!" zu Beginn des Jahres einen wahren Reigen weiterer Klassiker: GZAs "Liquid Swords", "The Infamous" von Mobb Deep, "Labcabincalifornia" der Pharcyde und ODBs Meisterstück "Return To The 36 Chambers: The Dirty Version" stammen aus demselben Jahr – um nur einige zu nennen. Sie alle belegen in der imaginären Hip Hop-Hall of Fame zu recht einen der vorderen Plätze. GZA und Mobb Depp mit atmosphärisch dichten Meisterwerken, Pharcyde mit Golden Era-Hymnen wie sie danach kaum mehr geschrieben wurden und ODB, weil er einfach ein alter dreckiger Bastard ist.
Musikalisch kann es aber keine der genannten Platten mit "Do You Want More?!!!??!" aufnehmen. Keine der sonstigen Legenden hat eine derart talentierte Musikertruppe im Rücken, die die Genres so spielend einfach verquickt, wie es davor und danach keiner Band mehr gelungen ist. Samples brauchen The Roots nicht. Die Frage stellt sich: Ist das eigentlich Jazz garniert mit Rap oder Rap beeinflusst von Jazz? Die Antwort ist einfach: Es handelt sich um reinen Hip Hop der echten, unprätentiösen, grenzenlosen und lebendigen Sorte. Ganz so, wie er sein soll.
Aber Hand aufs Herz: Wer sich bei Questloves staubigen, punktgenauen Drums und Scott Storchs großartigen Keys tatsächlich über Schubladen Gedanken macht, hat The Roots wahrscheinlich nicht verstanden. Und wem der Einsatz eines Dudelsacks im Titeltrack spanisch vorkommt oder wer mit der virtuosen Saxophonkunst des Gastes Steve Coleman in "Datskat" nichts anfangen kann, sollte sich ohnehin eine andere Band suchen.
Für alle anderen definiert Leonard "Hub" Hubbard am Bass den Groove neu, während Beatboxer Rahzel seine Stimmbänder scheinbar malträtiert ("Lazy Afternoon", "? vs. Rahzel", "The Lesson Part 1"). Irgendwo dazwischen winden sich die Raps der beiden MCs Malik B. und Black Thought im Offbeat um die gegebenen Klangwelten, als habe es noch nie Hip Hop ohne Jazz gegeben. Es sind diese wertvollen und sonst seltenen Momente, in denen von Musik bis Lyrics und Atmosphäre einfach alles perfekt passt, die "Do You Want More ?!!!??!" haufenweise zu bieten hat – und die es unmöglich machen, einzelne Titel aus dem Gesamtkunstwerk hervorzuheben.
Allenfalls "Essaywhuman?!!!??!" sei genannt, das in gewisser Weise symbolisch dafür steht, weshalb Black Thought als Rapper wie kein anderer unterschätzt wird. Der Mitbegründer der Combo ist kein auffälliger Frontmann, sondern Teil des Ganzen. In "Essaywhuman?!!!??!" wird seine Stimme mittels einer Art Scat-Rap endgültig zum Instrument der Jamsession: "Bass check one-two, keys check one-two, drums check one-two. It's The Roots!"
Black Thoughts größte Leistung ist es, seinen Partner im Laufe der Jahre vergessen gemacht zu haben. Bei "Do You Want More?!!!??!" merkt man erst, welch herber Verlust Maliks Ausstieg nach "Illadelph Halflife" war. Erst zu "Game Theory" kehrte er 2006 als Featuregast zurück, was die Truppe mit einem knappen aber aussagekräftigen "Welcome Home" in den Liner Notes kommentierte.
Zu diesem Zeitpunkt waren The Roots längst zu einem Big Player im Geschäft geworden. Mit verändertem Sound zwar, aber im Gegensatz zu vielen anderen Bands, die ihren schleichenden Niedergang gebetsmühlenartig mit dem Ausdruck "Weiterentwicklung" verteidigen, nahmen die Amerikaner eine wirkliche Entwicklung. Eine, die auf dem festen, unumstößlichen Fundament "Do You Want More?!!!??!" basiert. Und eine, die Black Thoughts Überlegung in "Proceed" einfach machte: "I shall proceed and continue to rock the mic." Alles andere wäre auch nicht hinnehmbar gewesen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
14 Kommentare
Dieser Kommentar wurde vor 7 Jahren durch den Autor entfernt.
Ich nicht. Mag diesen beat-reduzierten Oldschool-Boom Bap kaum noch. Hätte wohl eher Things Fall Apart genommen oder vllt noch besser das Unplugged Album von Jay-Z, weil es sowas vorher wirklich noch nicht gab (auch, wenn die Roots da nur die Band sind)
Finds toll, dass dir bei Überbands direkt Oasis einfällt.
@Topic: hör grad mal etwas in das Album rein und klingt gut bis jetzt. Kann mit dem meisten HipHop der Nullerjahre kaum noch was anfangen, daher gefällt mir der Oldschool Sound hier schonmal sehr gut.
@intro (« @mobeat (« How I Got Over das beste Roots Album »):
Auf keinen Fall. "Do You Want More?!!!??!", "Things Fall Apart", "Illadelph Halflife", "The Roots Come Alive", "Phrenology" und "Game Theory" sind Überalben. "The Tipping Point" ist gut und "How I Got Over" ist in keinem Fall mehr. Vllt etwas besser als "Rising Down". »):
auf so eine Reaktion hab ich gewartet und eigendlich früher mit einem empörten Aufschrei dieser Art gerechnet, aber man kann sich gegen seinen eigenen merkwürdigen Geschmack nunmal nicht wehren und How I Got Over ist für mich das beste Roots Album, obwohl Do You Want More der einzig wahre Meilenstein ist, was soll ich machen?
Selbstversändlich macht das die Alben um Phrenology nicht schlechter, die Du genannt hast.
Komm morgen Daydream Nation !
ganz in der manier von atcq und den soulquarians. meisterhafte symbiose aus hip hop und jazz.