laut.de-Kritik

Alles i.O. mit "Rio".

Review von

Till Brönner zieht sein Ding Schönling- und Smoothjazz-Vorwürfen zum Trotz unbeirrt durch. Beim ersten Hören mag sein Jazz tatsächlich seicht und weichgezeichnet klingen. Doch das ist nur der erste Eindruck. Denn Brönner-Alben gehören zu denjenigen, die von Mal zu Mal an Qualität gewinnen. Das ist die nachhaltige Erkenntnis aus "Oceana" und "Blue Eyed Soul".

Durchtränkt von solistischen Ausflügen, gebärden sich die 13 Songs von "Rio" als waschechte Latin-Tracks, die von vorne bis hinten alle Bossa-Klischees bedienen, die einem einfallen - und das sind nicht wenige. Brönners Kunst besteht neben seiner technischen und kreativen Unantastbarkeit darin, mit Schablonen so kunstvoll umzugehen, dass die Kitsch-Schwelle nie ernsthaft überschritten wird.

Zum 50-jährigen Bestehen der Bossa Nova rührt er die vermeintlich seichte Bossa-Soße auf voller Albumlänge. Mit seinen Mitmischern gemeinsam hat er die Idee einer Ehrung des Soundtracks zur Wirtschaftswunderära ohne Innovationsanspruch.

Aber: "Mit diesem Projekt ist für mich ein Traum in Erfüllung gegangen. Es war eine fantastische Erfahrung, in diesem Land Musiker dieser Qualität zu treffen. Man ist mir mit einer Offenheit entgegengetreten, die ich nie im Leben erwartet hätte. Das hat mich beflügelt, einzutauchen und mich fallen zu lassen," schwärmt Brönner von den Aufnahmesessions in Rio de Janeiro.

Dass "Rio" sehr modern klingt, hat mehrere Gründe. Zum einen hat sich der Protagonist im Laufe seiner Karriere einen eigenständigen Ton, eine autarke Linienführung und damit eine stilistische Wiedererkennbarkeit erarbeitet. Schließlich streben Musiker kaum etwas mehr an als ein eigenständiges Erkennungsmerkmal - als Instrumentalmusiker und Jazzer eine der dicksten Herausforderungen.

Zum anderen arbeitet Brönner allzu gerne mit befreundeten Künstlern zusammen. Auf "Rio" bittet er bereits für den Opener die Musiklegenden Annie Lennox & Milton Nascimento ans Mikrophon. Aimee Mann verzaubert mit ihrer Stimme die Jobim-Komposition "Once I Loved". Apropos Jobim, aus Antonio Carlos Jobims Feder, neben João Gilberto einer der Bossa Nova-Überväter, stammen insgesamt fünf der Kompositionen. Brönners Hommage an den Bossa gestaltet sich also auch als Andenken an einen der größten und bekanntesten Musiker des Genres, ohne auf dessen Gassenhauer wie "Girl From Ipanema" oder "Desafinado" zurückzugreifen.

Melody Gardot, die Sängerin mit der aufregenden Biografie und dem kürzlich erschienenen Hinhör-Debüt "Worrisome Heart", leiht ihre Stimme "High Night" ("Alta Noite" von Arnaldo Antunes). Aber auch der Grammy-geadelte Sérgio Mendes lässt sich nicht lange bitten und gibt auf "Ela È Carioca" als Sänger alles. Die brasilianische 'New Bossa Nova'-Interpretin Luciana Souza, kultiviert, wie auch Nascimento, je zwei Songs mit ihren edlen Gesangskünsten.

Ohne Singstimme kommt Deutschlands Vorzeigetrompeter bei "Ligia" aus. Sein rauchig-luftiger Ton und seine bereits gelobte Linienführung machen aus der Jobim-Komposition einen echten Brönner - toll! Bis auf die Jazzpolizei darf niemand etwas ernsthaft an "Rio" auszusetzen haben. Um als Meilenstein in die Musikgeschichte einzugehen, ist die CD jedoch zu gefällig. Insofern: alles i.O. mit "Rio".

Trackliste

  1. 1. Misterios (Mysteries) Feat. Annie Lennox & Milton Nascimento
  2. 2. O Que Sera? Feat. Vanessa Da Mata
  3. 3. So Danco Samba Feat. Till Brönner
  4. 4. Once I Loved (Amor Em Paz) Feat. Aimee Mann
  5. 5. Evening (Tarde) Feat. Milton Nascimento & Luciana Souza
  6. 6. Ela E Carioca Feat. Sergio Mendes
  7. 7. High Night (Alta Noite) Feat. Melody Gardot
  8. 8. Cafe Com Pao Feat. Till Brönner
  9. 9. Ligia
  10. 10. Sim Ou Nao Feat. Kurt Elling
  11. 11. A Ra
  12. 12. Bonita Feat. Till Brönner
  13. 13. Aquelas Coisas Todas Feat. Luciana Souza

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Till Brönner

Bereits um die Jahrtausendwende schreibt das Jazzecho: "Till Brönner als den emporstrebenden deutschen Nachwuchstrompeter schlechthin zu bezeichnen ist …

29 Kommentare

  • Vor 16 Jahren

    Wurde auch wieder Zeit. ;)

    Meilensteine sind so ne Sache und manch ein Album ist dermaßen "gefällig" im positiven Sinne, daß es immer wieder genussvoll gehört wird. Ich finde es gut, daß Du den (abgelutschten) Begriff "beliebig" nicht verwendet hast. Hättest Du es getan, wäre das Album eventuell mit nur ** bei dir weggekommen.
    Normalerweise müsste ich zu dem Album noch einige Zeit schweigen, stehe ich doch immer noch unter dem Einfluss eines Konzertes von Brönner im Juli. Und das war nun wirklich so famos, daß ich Gefahr laufe, das Album ein wenig durch die rosarote Brille zu sehen.

    Dennoch: ich sehe dieses Werk als eine Art von Hochglanzproduktion im guten Sinne. Normalerweise wird konstatiert, daß Hochglanzproduktionen keine "Seele" hätten, steril oder gar "kalt" wären. In diesem Falle definitiv nicht. Brönner spielt nicht auch nur im Ansatz lediglich seinen Stiefel runter, sondern ist ganz offensichtlich im Verbund mit seinen Gästen mit hörbarem Spass an der Sache dabei.
    Wenn ich Till Brönner höre, verbanne ich konsequenterweise dann auch alle Gedanken in Richtung "seicht" oder "ist unter wahren Jazzliebhabern kein Thema" aus dem Kopf.
    Denn Till Brönner schafft es bei mir, mit seiner Kombination aus exzellenter Spieltechnik und seiner wohl angeborenen Lässigkeit eine Atmosphäre des Wohlfühlens zu erzeugen. Wenn er dann noch -wie auf diesem Album- einige kongeniale (stimmliche) Hochkaräter um sich versammeln kann, steht einem Hörgenuss mit "Seele" nichts entgegen.
    Es muss nicht immer sperrig, schräg, experimentell oder was weiß ich noch alles sein.
    Bei Brönner ist be- und verzaubernder Wohlklang angesagt, da stimmt hörbar die Chemie mit seinen Gästen, in seine Tracks auf diesem Album kann man sich fallen lassen und man landet immer schön weich. ;)
    Für manch anderen mag das alles "beliebige" Fahrstuhlmusik oder gerade noch so aushaltbares Lounge-Hintergrundrauschen sein, in diesem Falle ist mir das so egal wie nur sonstwas.

    *** sind mir persönlich hier zu wenig, daher ein kleines bissel knapp, aber verdient ****

  • Vor 16 Jahren

    hey jan,

    einigen wir uns auf 3,5 ;-)

    ich hab sie noch nicht oft genug gehört ... wie eingangs erwähnt, werden brönner-scheiben ja von mal zu mal besser, deshalb bin ich guter hoffnung :-)

    und hey, du hast mal wieder mit allem Recht ... warum schreibst du eigentlich nicht für laut.de ?

  • Vor 16 Jahren

    Wir können uns auch auf 3,875 einigen, das ergäbe dann aufgerundet gesicherte 4 ;)

    3,5 oder *** 1/2 wäre für mich keine Wertung, die (vom System her) absonderlich aussehen würde, ich werte aus alter Gewohnheit nach dem System des RS. Und dort gibt es nun einmal "halbe Sterne", analog zur 10-Punktewerteung. Es erlaubt öfters mal eine etwas feinere Differenzierung, was sicher ebenfalls nicht verkehrt ist. Aber das nur am Rande.

    Brönners Alben "wachsen" auch nach meinem Eindruck immer noch ein wenig im Laufe der Zeit. Eigentlich verwende ich den Begriff "wachsen" jedoch nicht allzu gerne. Wenn ich es tue, dann in den Fällen, in denen mir ein Album grundsätzlich schon einmal gut gefällt, mindestens *** von mir bekommt und "Zug nach oben" hat.
    Ein Album, welches in meiner Wertung nach den ersten Eindrücken darunter liegt, "wächst" bei mir in aller Regel nicht hin zu "gut bis sehr gut".

    Schreiben für Laut....tja, es ehrt mich -wie ich dir schon einmal geschrieben hatte- daß Du mich für würdig erachtest, in euren erlauchten Kreis einzutreten. ;)
    Nur fehlt mir momentan und auch auf absehbare Zeit eben diese.
    Es liegt weniger daran, daß ich überhaupt keine Zeit dafür aufbringen könnte. Aber es könnte gut sein, daß ich -aus privaten Gründen- recht plötzlich für 1 oder 2 Wochen von der Laut-Bildfläche verschwinden müsste.
    Es wäre mir daher (ganz ehrlich) ziemlich peinlich, als "unsicherer Kantonist" im Walde zu stehen, der ggf. das eine oder andere Album zu besprechen hätte und den Abgabetermin nicht einhalten kann, weil halt anderweitig sehr eingespannt oder gebunden.

  • Vor 16 Jahren

    Nein, bin ich wohl nicht. ;)
    Aber ich klicke natürlich gerne heut Abend deine Links an. Vielleicht fällt ja doch die eine oder andere positive Überraschung für einen Freund des harmonischen Wohlklangs dabei ab.

    Und was meine latente Abneigung zu Frickeljazz angeht: es kommt dabei natürlich noch hinzu, daß im Grunde kein Mensch sich mit Dingen näher oder intensiver beschäftigen möchte, die er halt nicht sonderlich goutieren mag.
    Wenn mir Austern partout nicht schmecken, beschäftige ich mich nun einmal nicht mit der Kunst des Austernschlürfens. You know? ;)

  • Vor 16 Jahren

    @Thelema («

    Ach: Als Jazzpurist wirst du mich doch wohl nicht bezeichnen wollen??? »):

    Nein, würde ich im Grunde nicht.
    Ein wahrer Purist hat für mich (egal in welchem Bereich) immer diesen gewissen abgehobenen "Elfenbeinturm-Touch". Und den erkenne ich bei dir nun wirklich nicht. :D