laut.de-Kritik
Kluges Rhythmusspiel zum Abschalten und Nachdenken.
Review von Philipp KauseNächsten Sommer wird sie ein halbes Jahrhundert in Betrieb sein: die Coronado-Bay-Brücke von der Megacity San Diego zu ihrem Halbinsel-Vorort Coronado, Teil einer Stadtautobahn, der California State Route 75. Tendenziell ist die kalifornische Reggae-Szene eine der größten der Welt, sowohl hinsichtlich der Anzahl der veröffentlichenden Bands als auch gemessen am kommerziellen Erfolg. Sie dürfte unmittelbar hinter Jamaika rangieren.
Fährt man über die erwähnte Brücke mit der wunderschönen Aussicht, ist man 3,4 Kilometer unterwegs. Dabei könnte Surf-Garage-Musik als Soundtrack passen, Steely Dans Westcoast Rock von der Eastcoast ("Ricky Don't Lose That Number") - oder das verträumte Album der Tribal Seeds. Sie kommen aus dieser Stadt. Einen Song, je nach Verkehrsaufkommen auch drei Songs, kann man für die Strecke einplanen. Dazu sieht man dann die Hafengegend mit ihren Segelbooten, die Bay mit den Flussmündungen des Oak und des Sweetwater River in den Pazifik sowie die Skyline der San Diego Downtown.
San Diego ist überhaupt recht spannend. Angrenzend an Mexikos Städte Tijuana und Tecata, verbindet es sich mit diesen zu einem bi-nationalen Ballungsraum. Dem Weltbild des Donald Trump dürfte dies missfallen, doch die Tribal Seeds laden zwar keine Mexikaner auf ihr Album ein, waren aber in Mexiko bereits auf Tour. Die Namen der Mitglieder klingen einigermaßen Hispano-stämmig: Jacobo (zweimal, zwei Brüder), Navarro (der genial klingende Bassist), Gonzo, Castillo und Lopilato lauten die Nachnamen der Beteiligten. Auch der Siebte im Bunde scheint Migrationshintergrund im Einwanderungsland USA zu haben, Mr. Dekofsky.
"Roots Party" ist zwar eine erweiterte EP, also ein extended "Extended Play", kein Album im klassischen Format. Dennoch fasst es recht schön das Angebot der Band zusammen: fünf neue Songs, darunter einer mit dem Jamaikaner Protoje als Gast. Alle fünf Tracks in erlesenster Klangqualität, serviert in einem schönen Digipack-Cover, das mit der "natural but man-made beauty" der Coronado-Brücke und ihrer Kulisse mithalten kann. Das Cover-Artwork zeigt eine nächtliche Party, die auch die Polizei (rechts im Bild) genau beobachtet. Doch gegen die Party gibt es im Grunde nichts zu unternehmen.
Einige Leute tanzen, einige unterhalten sich, einige sitzen mit ein paar Senioren an Conga-Trommeln in Hippie-artiger Vertrautheit zusammen. Man fühlt beim Hinschauen nach zehn bis zwanzig Sekunden den Woodstock-Film im Hinterkopf, meint Santanas "Oye Como Va" aus der Ferne zu hören und entdeckt mindestens vier Hunde, die an der "Roots Party" teilnehmen. Nathan Dino oder Nate Dino heißt der Gestalter dieser Grafik, ein lokaler Designer in San Diego, der für die Tribal Seeds schon vorher tätig war und über sich sagt, er zeichne von Hand (also wohl nicht mit einer Paint-Software).
Das Altmodische daran, das einen in die frühen 1970er Jahre versetzt, trifft auch auf den Sound zu. Das Mastering ist so gut wie aus den Zeiten in den Siebzigern, als noch analog aufgenommen und in Plattenproduktionen mit immens vielen Aufnahme- und Abmischungstagen investiert wurde. Kaum etwas wirkt hier synthetisch, alles stammt aus einer organischen Welt von Instrumenten, die im Reggae seit Einzug des Digital Dancehall schon lange verkümmert bis scheintot ist, und die im Soul vor allem Samples, Zitate von Altmeistern (Quincy Jones, Marvin Gaye, Stevie Wonder, Kool & The Gang, Commodores) im heutigen Hip Hop wachhalten.
Die Tracks sechs bis acht sind Dub-Versionen vorangegangener Stücke. Auch sie sind bezaubernd. Es schließt sich "Dawn Of Time" an, der laut Band meistgestreamte Song aus ihrer bislang dreizehnjährigen Bandhistorie. In dieser ganzen Zeit sind zwar zahlreiche Titel entstanden, jedoch nur relativ wenige auf Tonträgern erschienen. Dagegen tourten die Tribal Seeds viel. Nach Deutschland kommen sie zwar auch jetzt nicht, betreten europäischen Boden aber 2018 in Portugal.
Auch die Veröffentlichung des Materials erfolgt in Mitteleuropa recht zögerlich. Von ihrem vor genau neun Jahren erschienen "The Harvest"-Album (das mit Neil Young tatsächlich in Bezug auf die Stimmung Einiges gemein hat), platzieren sie zwei Songs hier erneut: "The Garden" und "Vampire". "The Garden" ist ein textlich genretypischer Kiffsong über den Anbau von Gras und Mr. Herbsman, der es vertickt. Weniger genretypisch wirken die Jazzrock-Elemente gegen Ende des Lieds.
Mit der nach vorne stolpernden Kombination aus Modern Roots und Hip Hop in "Vampire" waren sie damals, 2009, noch visionär und ihrer Zeit voraus. Heute macht so etwas von Jesse Royal bis Leno Banton eine ganze Generation jamaikanischer Newcomer. Viele davon sogar mit höherem Bekanntheitsgrad, als ihn die Tribal Seeds in der Reggaeszene genießen. Dort sind sie nämlich aus karibischer wie auch aus europäischer Sicht Außenseiter. Exzentrisch, aber auch sympathisch die freistehende Instrumentalfläche von Minute 2:34 bis 3:01, Breakbeats-artig, ungewohnt. Ein bisschen sind sie wie G. Love & Special Sauce, passen in keine Stilrichtung und fusionieren Rock mit Offbeat-Genres. Als Radio-DJ halte ich das für eine ziemlich gute Entscheidung. Selten fällt einem ein so komplett Airplay-taugliches Album in die Hände.
Unter den insgesamt sechs Bonus-Tracks stechen das eingängige und elegische "Moonlight" (passend zur Optik des nachtblauen Covers) und das federnde "Night & Day" heraus. Letzteres nimmt sich Zeit für ein im Reggae seltenes und vor allem selten schönes Gitarrensolo, das im Classic Rock irgendjemanden zwischen Foreigner und Crosby, Stills & Nash zitiert. Außerdem hat der Song etwas, das auch den neuen Stücken eine besondere Note gibt, für die kalifornischer Reggae bislang aber so gar nicht stand: entspannter Einsatz von dubbigen, blubbernden Effekten.
Speziell "Roots Party", der Titelsong, verdient die Würdigung als Höhepunkt des Albums: Hier spielen Tribal Seeds die Stärke des Werks, nämlich dubbige Effekte, die in einem wilden Sounddschungel gegeneinander reiben, schön konsequent aus und ziehen sie durch alle Instrumente, seien es Gitarrenakzente, Synthie-Loops und Bassläufe, geführt von einer souverän und retrohaft nach vorne gemischte Bass Drum.
Auf "Rude Girl" kommt noch Eric Hirschhorn am Altsaxophon dazu. Auch einen Trompeter und einen Hornisten zählen die Credit Notes auf, doch alle Verzierungen werden unauffällig in den Klangfluss untergemischt. Fließend, geschmeidig ohne Brüche produziert, so lässt sich bei diesem klugen Rhythmusspiel vor allem eines: gut abschalten, nachdenken, die Aussicht genießen, auf der Couch liegen.
Da fällt auf: Das ganze Album ist Feierabendmusik, ohne auch nur einmal eine Störung zu verursachen, ohne einmal aus dem Takt zu geraten oder zu provozieren. Was für manchen langweilig (weil: zu friedlich) klingen mag, ist in unserer Multitasking-Zeit aber ein wunderschöner Diamant.
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