laut.de-Kritik
Tanz, oder ich fress dich.
Review von Philipp KauseDer Sampler "Eurovision Song Contest Rotterdam 2021" beinhaltet alle Songs des diesjährigen Wettbewerbs. Also auch solche, die in den Halbfinalrunden ausscheiden, nicht aber solche, die kurz vor der Austragung zurückgezogen wurden.
Etwa die Hälfte lässt sich dem Feld Electro-/Dancepop (teils mit Ethno-Elementen) und Urban Pop zurechnen. Neben dieser zähflüssigen Massenware, die selten wirklich Tanzlust weckt, gibt's ein bisschen Folktronica, manch langweiligen Konsens-Rock-Pop, das gewohnte finnische Metal-Zitat und die üblichen Power-Pathos-Balladen (Georgien, Schweden, Slowenien, Nordmakedonien, Bulgarien).
Hinzu kommen ein paar Individualisten, zu denen 'unser' Jendrik gehört. Schlager fehlt 2021, und Rap-Elemente sind sehr selten (San Marino, Russland, minimal bei Finnland). Klassik findet sich nennenswert nur im Orchester-umhüllten slowenischen Beitrag, obwohl viele Akteure beteiligt sind, die ein klassisches Instrumentestudium (Geige, Klavier usw.) absolviert haben. Ein beträchtlicher Anteil an souligen Schattierungen überrascht, daran lohnt es sich, ein Ohr anzulegen. Aus den elektronischen Segmenten jenseits von Dance halten Hooverphonic mit einem triphoppigen Stück und ein lettischer Dancehall-Latin-Dubstep Einzug.
Traditionelle Elemente des Herkunftslandes weist vor allem der ukrainische Beitrag von Go_A auf. Go_A wollten erst noch ukrainischer klingen, wurden mit anderen Stücken aber nicht zugelassen, weil diese zu viel Ähnlichkeit mit Traditionals hätten - Stücken ohne Komponistenangabe, Volksgut sozusagen. Die gewichtige Überzahl der Beiträge ist auf Englisch. Dafür zeigt sich die Schweiz mit der Frankophonie solidarisch, aus dem dreisprachigen Land tritt ein Song auf Französisch an. Kurioserweise helfen viele Leute bei anderen Nationen aus, da geht es kreuz und quer. Latin kommt dieses Mal aus Serbien, während Spanien sehr international klingt. Frankreich entschied sich für Chanson und eine der authentischsten Darbietungen.
Wen all das bis hierher nicht in die Flucht schlägt, der erhält eine durchaus erträgliche CD mit wenigen wirklich miesen Tracks. Das ist die gute Nachricht. Konfrontiert man sich mit allen 39 Tracks non-stop, ist es aber auch schwierig, wirklich schöne raus zu filtern. Auch die besten Beiträge leiden etwas an einem "gezwungenen", wenig organischen Charakter.
Als Favorit handeln die Wettfreudigen bereits Italien. Nachdem (mein Lieblingsteilnehmer) Mahmood 2019 mit seinem sehr guten Beitrag leider nur auf Rang zwei reüssiert hat, wollen sich die Südländer 2021 nicht lumpen lassen. Das Gitarrenbrett von "Måneskin - Zitti E Buoni" sticht aus der gesamten Kollektion als freshester heraus. Das derb-humorige Video in Prodigy-Optik erinnert an Clips der 90er. Das Lied bricht mit allen Erwartungen ans Event ESC, weswegen ein Sieg sehr lustig wäre.
Dass "Voy A Quedarme" des spanischen Teilnehmers Blas Cantó ein Song für seine Oma ist, glaubt man sofort. Beim Hören des austauschbaren, altbackenen und verzerrten Geigen-Rock-Pop kann einem die Großmutter direkt leid tun. Auch die ganz braven Klavier-und Keyboard-Töne täuschen nicht über die metallische Stimmfärbung hinweg. Den Spaniern dürfte das gefallen, sie setzten hier auf einen erfolgsverwöhnten alten Charts-Hasen. Auch hierzulande mag es einen Markt für das 29-jährige Dorfkind geben, unter urlaubshungrigen Kanaren-Fans zum Beispiel. Der studierte Trompeter und Pianist singt aber recht grausig.
Der Nordengländer James Newman singt nicht für seine Oma, sondern für die BBC, die ihn auserkor. Sein Stomper-Electropop "Embers (UK)" soll zum Mitsingen anregen. Bei mir funktioniert das nicht. Das Video hilft auch nicht, weil es so dunkel ist, dass man nichts sieht. Der Song ist einer der schnellsten und wird dadurch am Final-Abend sicher auffallen. Dass nach dem Brexit allzu viele Stimmen gen UK fließen, glaubt ernsthaft keiner. Die Briten qualifizieren sich weiterhin 'automatisch', da sie die Übertragung des Tamtams maßgeblich mit finanzieren.
Umgekehrt, Rumänien hat bei der EBU (European Broadcasting Union) knapp 15 Millionen Euro Schulden, und so lange die Veranstalter nicht unter der von Roxen besungenen "Amnesia" leiden, wird der Auftritt der Newcomerin samt Tanztruppe ein seltenes Gastspiel bleiben. Wenn sie das Beste ist, was Transsylvanien vorschicken kann, wird man das Land nicht vermissen. Das Lied der 21-Jährigen wirkt wichtig, endet hymnisch, ist ganz akzeptabel. Aber gehört zu denen, die man nach Hören der CD am schnellsten vergisst.
Aus dem osteuropäischen Raum ereilen uns zwei der drei krassen Mega-Flops im Aufgebot. Polens Rafał Brzozowski, 39, Sportlehrer, entfacht mit seinem unterkühlten Sonnenbrillen-Look im Clip schon kein Feuer. Obwohl er 2019 selbst Jurymitglied war, tritt er jetzt als Show-Act mit einem der schrecklichsten Beiträge an. "Rafał - The Ride (PL)" mangelt es an Melodie, Bass, Stimmkraft, Textideen, Humor - allem. Dieses flache Stück Disco-Gedudel kontert eine der bisher glücklosesten Teilnahme-Nationen, Albanien. Stilistisch. Qualitativ noch schlimmer: Mit anstrengender pseudo-orientalischer, folktronischer Melodramatik ist der Opener des CD-Samplers, von Anxhela Peristeri, der wohl mieseste. Wenigstens schreibt sie selbst Songs. Die Video-Choreographie lässt für die Bühnenshow anhand der Gestik bereits Schlimmes ahnen. Zum Anhören lädt der kitschige Track mit seinem übertrieben verschwörerischen Intro schon gar nicht ein. Bei "Karma" kommt der Moment, in dem viele beim ESC-Gucken eine frische Cola rausholen oder die Nasszelle aufsuchen. Ganz grausam die programmierten Automat-HiHats zur graziös geschliffenen Stimme.
Der 27-jährige Produzent Tix verschwindet auf CD 2 in der Mitte. Er mag Ava Max' Hit "Sweet But Psycho" komponiert haben, okay. Hinter ihm standen beim Vorentscheid trotzdem nur gut die Hälfte der norwegischen Voter. Oder anders gesagt, Tix verkörpert für Norwegen beim ESC das, was für CDU-Mitglieder Laschet im Wahlkampf darstellt. Entsprechend seifig, mit disharmonischer Rea Garvey-Schlagseite, dürfte für Norwegen schon das Halbfinale zur Zitterpartie geraten. Das Problem: Viele Länder entsenden Leute mit hohem nationalen Bekanntheitsgrad, ohne zu beachten, ob der Kandidat den Hauch einer Chance hat. Der 27-jährige Auftragskomponist von Sauf- und Sex-Hits klingt kein bisschen nach Skandinavien. "Tix - Fallen Angel (N)" kann theoretisch für Südkorea oder Kanada stehen – ganz egal, ein Füll-Beitrag (wie so viele).
Am meisten aus der Masse scheren der finnische, belgische und maltesische Beitrag aus - wenn man von Jendriks überschwänglichem Jazzpop-Unikat absieht. "Blind Channel - Dark Side (FIN)" klingt als Dancepop-Rap-Metal mit spastischem Hymnen-Ansatz genauso, wie die schauerliche Lightshow im Clip optisch wirkt: Aggressiv, aber doch angepasst, laut, brachial, aber doch wieder edel und gezähmt. "Put your middlefingers up", "We don't wanna grow up" und "Life on the darkside" sind die drei Kern-Passagen des Textes, Keyboards sollen wohl alles in Richtung 'geheimnisvoll' hin wabern. In Anbetracht der ganzen Plastik-Sounds rundherum hat das Sextett mit Instrumenten womöglich Chancen auf die Top Twelve; höher kaum.
Hooverphonic fuhren schon ruhigere Sachen auf. Das hier ("Hooverphonic - The Wrong Place (B)") hat zwar mit generellem ESC-Sound nichts zu tun und erklingt dort am wrong place. Dafür ist es schön. Weil es einfach ein ganz normales Lied ohne überkandidelte Emotionen ist. Malta holt lange nach dem Parov Stelar-Hype mal wieder Electroswing auf eine große Bühne. Die 18-jährige Destiny Chukunyere startet nach einem langen Intro in die Gesangsspur. Die Soul-Liebhaberin und Aretha-Covervokalistin krallt sich 'Stärke von Frauen' als Thema - wie auch ihre russische Kollegin und die aserbaidschanische Teilnehmerin. Empowerment, damit war zu rechnen. "Den Song widme ich all diesen Frauen da draußen, die sich im Abseits fühlen. Wie können es selbst schaffen, (...) wenn wir an uns glauben", erzählt sie. Dank ihrer wirklich starken Stimme lockert sie – trotz Dancepop-Komponenten im Song auf. "Destiny - Je Me Casse (M)" brilliert nicht nur als halbwegs origineller Tune, er hat auch gute Chancen auf die Top 3 im Finale.
Außer Malta sorgen Portugal, Slowenien, Dänemark, Holland und Island für Soul im ESC. Daði Og Gagnamagnið aus Reykjavík würzen ihren Electropop mit funky Jamiroquai-Rhythmik. The Black Mamba singen "Love Is On My Side" für Portugal. Der Soulnummer mit Streichern fehlt der Pep (obwohl die Band sonst aufregendere Sachen spielt). Respektabel ist: Man erzählt die Geschichte einer osteuropäischen Prostituierten, die in Hoffnung auf ein besseres Leben in den Westen auswandert. Da wählt das Quintett ein sehr europäisches Thema, das durch die Freizügigkeitsregelung 2013 an Brisanz zunahm. Für solche Texte ist der ESC natürlich eine gute Plattform. Mit angekratzter Stimme timbriert Pedro Tatanka zwar weicher als Macy Gray, erinnert aber an sie, und das Lied mit seinem Broadway-Charakter könnte gut in Macys Repertoire passen.
"Ana Soklič - Amen (SLO)" ist eine Art Soulpop-Ballade mit Hallelujah-Chor, Klatschen und dem Slovenia Symphony Orchestra. "Fyr Og Flamme - Øve Os På Hinanden (DK)" plumpst ein bisschen aus der Zeit. Als träfen Fanfaren-Filmmelodien alter Samstagabendshows der 70er/80er auf die späten Bee Gees. Gesanglich charaktervoll, und der antizyklische Ansatz ist lobenswert. Dennoch ein 'egal'-Song für 'anstelle der Werbepause', weil es die ja in der Übertragung nicht gibt. Titelverteidiger Holland entsendet einen der besten Beiträge 2021. Jeangu Macrooy aus dem südamerikanischen Surinam wanderte für sein Musikstudium in die Niederlande ein. "Birth Of A New Age" lehnt sich ein kleines bisschen an den Dancepop-Mainstream an, mehr noch aber lenkt Jeangus warmer Gesang den Track in Richtung Roachford.
Von meinen drei Wunschkandidaten haben zumindest zwei eine reelle Chance, Barbara Pravi, 27, eine klassische Chansonkünstlerin mit Gréco-Intensität und langjährigem Plattenvertrag in der Tasche, die zwar 36 Mal in ihrem Song "Voilà" das Wort "voilà" vorträgt, aber einfach sehr gut singt. Der 23-jährigen Bulgarin Victoria Georgieva wäre für "Growing Up Is Getting Old" der Sieg zu wünschen: ein pointiert hingetupfter emotionaler Storyteller-Pop-Song. Die angenehme Entertainerin mag ein bisschen an Duffy erinnern. Die nicht allzu aufdringliche Melodie hebt den Track heraus. Eine Newcomerin aus Bulgarien wäre mal eine neue Wendung in der ESC-Historie. Aus einem symbolischen Grund wäre auch ein schwedischer Sieg reizvoll, musikalisch akzeptabel.
Tusse, Kongolese, der als Kind ohne Eltern im Alter von acht Jahren nach Schweden einwanderte, lebt das Integrations-Narrativ seines Landes jetzt mit großer Reichweite aus. Der Track punktet unter allen Dancepop-Darbietungen noch als der geschmeidigste, hätte nach einem ESC-Gewinn europaweit Chancen auf Radio-Airplay. So könnte auch Tusses Biographie bekannt werden und einen neuen Blick auf Migration fördern. Zwar wirkt der Sänger selbst irgendwie cooler als sein Wettbewerbslied "Voices". Die Hürden liegen 2021 aber tief.
7 Kommentare mit 4 Antworten
Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.
Der Rezessionist soll sich einfach mal ein paar Wochen Zeit nehmen zum Hören. Die Songs erschließen sich erst nach einer Weile, und werden mit der Zeit immer besser. Nicht einfach so nach zwei Tagen die Revue hier hinschreibseln!
4/5, weil ich den Originalmix von Natalia Gorienkos "Sugar" nen Ticken besser finde.
Ja das stimmt man muss sich Zeit nehmen um die Lieder allgemein.
Natalia Gordienko
Ach, stimmt. War so sauer auf dem Autor, dass ich das "d" vergessen hab. Mulțam!
Naja, aber eine gewisse Rezession kann man dem ESC doch schon zuschreiben. Dieses Jahr war der Marktanteil an Zuschauern in Deutschland so niedrig wie noch nie. Und ganze 23 Prozent unter dem Wert von vor zehn Jahren.
Und ich lerne gerade Italienisch, damit ich mich nicht weiter stellvertretend für Jendrik schämen muss.
Sowas kommt davon, wenn man keinen Vorentscheid macht. Beim nächsten Mal schickt "die Jury" wahrscheinlich eine genderneutrale Giraffe nach Italien, die "save the climate" pupst - und damit auch dem drittletzten Platz landet.
Immerhin eine Verbesserung.
Ich finde in diesem Jahr sind viele gute Lieder dabei natürlich gibt es viele Electropop und Dancepop Lieder aber die machen Spaß wenn man sie öfter anhört.
Am besten von den schnelleren Liedern gefallen mir Aserbaidschan, Dänemark in Landessprache, Island, Litauen, Malta, Russland in Landessprache, Schweden und San Marino mit Unterstützung vom Prominenten Rapper Flo Rida.
Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.
Laut der Buchmacher ist Italien Favorit dieses Jahr aber Bulgarien, Frankreich, Litauen, Malta und die Schweiz haben auch Chancen zu Gewinnen.