laut.de-Kritik
Jamaikas Newcomer scharren längst in den Startlöchern.
Review von Philipp KauseWas in den frühen 2010ern recht vielversprechend als Roots Reggae-Revival startete, wirkt heute manchmal ganz weit weg. Dabei droppte Jah9 noch ein paar Tage vor dem weltweiten ersten Lockdown einen der Über-Klassiker des Genres, "Note To Self". Seither und schon vorher passierte nicht viel, außer dass sehr viele jamaikanische Held*innen der ersten Reggae-Generation binnen sehr kurzer Zeit von uns gingen.
Der neue "Gratitude Riddim" von Protojes Kumpel Phillip James ruft aber ins Bewusstsein, dass da eigentlich haufenweise Leute in den Startlöchern stehen, um den Generation shift von den über 70-Jährigen zu den heute um die 30-Jährigen endlich zu bewältigen. Denn diese Task tut not: Lee 'Scratch' Perry war bis kurz vor seinem Tod mit 85 noch einer der Headliner, auf dessen Zugkraft sich Festivals verließen. Die Generation zwischen Alborosie, dauergebucht, 44, und der jungen Koffee, 22, hat kaum jemand systematisch gefördert.
Der "Gratitude Riddim" tut es nun. Mit dem Musikbett der US-Gospelreggae-Produzenten Ben's Beats & Whooyi (2020) sowie dem sehr geilen, gleichnamigen Riddim von Österreichs Irievibrations von 2017 (inklusive Bonez MC & RAF Camora) hat der jetzt vorliegende Neuling made in Jamaica gleichwohl nichts zu tun.
Der "Gratitude Riddim" beruht auf süßen Keyboardlinien, einer Melodie mit geringem Tonhöhenspektrum, ein paar dezent und kurz eingesetzten Flötentriller- und Synthsamples. Ein knalliges Schlagzeug-Riff trennt Verse und Hook. Dann gibt es noch einen C-Teil, eine Bridge mit dubbigem Blubbern. Der Riddim endet mit einem langen Fade-Out, klingt warm, unaufdringlich, mit denkbar vielen Stimmen kompatibel. In der Regel nimmt man eine komplett neutrale Version mit den tragenden Elementen Bass, Drums und Keyboards sowie einen 'TV-Track' mit Zusatzeffekten, Verzierungen und Background-Vocals auf, lässt aber eigentlich alles identisch für alle Teilnehmenden.
Weitgehend trifft das auch hier zu. Jedoch entstand der Riddim nicht durch Filetransfer, sondern hörbar als organische Sache face-to-face zwischen dem Produzenten und seinen sechs Artists, so dass für die einzelnen Nummern wohl mancher Sonderwunsch an Tasten und Reglern berücksichtigt wurde. Zum Beispiel bekam Jaz Elise schicke Soul-Reggae-Akkorde und eine federnde leichte Abmischung spendiert.
Die junge von Protoje entdeckte Studienabbrecherin der Psychologie und R'n'B-Chanteuse leitet mit einem Plädoyer für Bauchgefühl, Bescheidenheit, für den 'Almighty One', für Vertrauen und gegen Hass, Kummer und Sorgen ein. Samory Tour-Frazer a.k.a. Samory I, 32, war mit Auftritten bei Reggae Jam (2016), Ruhr Reggae und Summerjam (2019) sowie einer riesigen Coverstory im Riddim-Magazin längst in Deutschland durchgestartet. Auch sechs andere europäische Länder buchten den Sänger mit der jugendlich hellen Stimme und der interessanten Phrasierung. Sein Beitrag "Love And Mercy" handelt von Fehlern und Vergebung.
Ras I, eigentlich Immanuel Kerr, 31, fliegt dagegen noch eher unter dem Radar, taucht aber am selben VÖ-Tag auch auf Bonzai Carusos ähnlich gut gemachtem "Generation Gap Riddim" auf. Ras I schließt die Lücke zwischen den Alterskohorten mit Vibrato-Gesang in "Time Won't Wait". Von Musikertochter Naomi Cowan erwarten sich viele viel, während ihr Beitrag "The Voice" auf jeden Fall spannende Wechsel zwischen kratzigen und cremigen Gesangsmomenten offenbart.
Mortimer McPherson, 28, wurde lange als 'Next big thing' von Jamaikas Roots-Industrie gehandelt und setzt dem Wörtchen 'lit', das 2016 bis 2018 in der Jugendsprache Hochkonjunktur hatte, ein kleines Denkmal: "Keep That Fire Lit". Als etabliertester und bekanntester Act musiziert Kumar Bent (Ex-Raging Fyah). Der smarte 33-Jährige, der am liebsten Schwarz trägt, erinnert gesanglich an die europäische Gruppe Aswad. Dieser nur kurze Streifzug deutet jedenfalls an, dass da noch zahlreiche, vielversprechende Newcomer*innen von der Insel Schlange stehen.
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