laut.de-Kritik
Ein effektvoll inszeniertes Schauermärchen.
Review von Yan VogelArjen Lucassen, die zwei Meter große ein Mann-Armee des Progrock, hat mit "The Source" viel Kritik eingesteckt. Produktion und Sängerriege waren zwar zum Zunge schnalzen. Über Albumlänge zeigten sich bei der nah am Power Metal gebauten Fließbandarbeit allerdings Abnutzungserscheinungen. Die stilistisch ähnlich gelagerten Breitwandfeuerwerke "01011001" und "Universal Migrator Part II" verfügen im direkten Vergleich einfach über mehr Schmiss, Zunder und Kreativität.
Lucassen war in der Zeitschleife seines eigenen Kosmoses gefangen. Da die Sci Fi-Story mit "The Source" den letzten Schliff erhalten hat, stand die Frage im Raum, ob Ayreon den Ereignishorizont überquert haben und nun ein neues Projekt angreifen: "Transitus" ist ein Schauermärchen geworden, effektvoll inszeniert und öffentlichkeitswirksam von einem Comic flankiert.
Der 60-Jährige hat sein Lampenfieber mittlerweile im Griff und Gefallen an einer effektvollen und opulenten Inszenierung in Folge der zahlreichen Liveevents im 013-Club in Tilburg gefunden. Die Liveerfahrungen der vergangenen Jahre prägten, und Lucassen kreiert eine Mischung, die viel Neues birgt, Altbekanntes hingegen nicht über Bord wirft.
Wie etwa bei der fulminanten Liveumsetzung von "Into The Electric Castle" greift der holländische Hüne auf einen Sprecher zurück, der getrost als Jugendidol des nerdigen Komponisten bezeichnet werden darf. Im Falle von "Electric Castle Live and Other Tales" ersetzt Star Trek-Darsteller John De Lancie als Erzähler die dröge Valiumstimme auf der Originalplatte, füllt den Part mit Dramatik und Leben und führt durch die diversen Prüfungen, die den acht Protagonisten auf ihrer Reise durch das Eletric Castle blühen.
Für "Transitus" mimt der von der englischen Serie "Doctor Who" bekannte Schauspieler Tom Baker den charismatischen Erzähler, untermalt von Soundscapes, bevor die anschließend einsetzende Musik die Stimmung kristallisiert. Die opulenten Chorpassagen brachte der Multiinstrumentalist schon bei "Theater Equation" auf die Bühne. Die Liveumsetzung der ausufernden Gesangslinien von Devin Townsend in der Studiofassung von "The Human Equation" hat nach einer entsprechende Menpower bei der Show geradezu geschrieen: Der Hellschor erledigt seine Aufgabe auf "Transitus" souverän und mit der Kraft der tausend Stimmen.
Die stimmgewaltige an Gospel und Blues geschulte Senkrechtstarterin der Metal-Szene, Cammie Gilbert, die jüngst erst mit ihrer Stammformation Oceans Of Slumber eine neue Platte veröffentlichte, interpretiert die Hauptrolle. Die langjährige Kollabor-Partnerin Anneke Van Giersbergen, mit der Lucassen das Projekt The Gentle Storm realisiert hat, geht hingegen leer aus. Die Wahl von Gilbert bleibt konsequent, auch wenn sie im Korsett des Ayreon-Kosmos dramaturgisch nicht alle Register ihres Stimmumfangs zieht.
Meinte man zudem, dass Ed Warby mittlerweile fest mit dem Drumschemel des erfolgreichen Projekts verheiratet ist, sieht sich der Fan eines Besseren belehrt. Juan Van Emmerloot heißt der neue Schlagwerker, und was ihm im Vergleich zu Warby an Punch und Präzision fehlt, macht er mit Finesse und Gefühl wieder wett.
Als Referenz dient "The Theory Of Everything", das jedoch deutlich sinfonischer gestaltet und näher am Seventies-Prog liegt. Auch der Vergleich mit der Durchbruchsplatte "Into The Electric Castle" hilft nur bedingt, da dort die auf einzelne Sänger zugeschnittenen Nummern dominieren, und der Folkrock ausgeprägt im Klangbild verankert ist.
Und nun ein Musical, ein Singspiel, das dem Aufbau einer klassischen Oper folgt: Zwei Akte, Drama ohne Ende sowie ein prägnanter Wechsel zwischen Rezitativ und Arie, also Sprache und Gesang. Der Klassiker "Jesus Christ Superstar" oder auch The Whos "Tommy" prägen in puncto Struktur. Aber auch "The Astonishing" von Dream Theater dürfte dem Mastermind zu Ohren gekommen sein.
Die opulente Ouvertüre stellt in dieser Form ein Unikum dar: Lucassen konzipiert den Einstieg als einen Streifzug durch die Klassiker des Soundtracks mit Blitzlicht auf Jerry Goldsmith, diverse John Carpenter-Vertonungen, den Omen-Score oder Mike Oldfields "Tubular Bells".
An dieser Stelle arbeitet Lucassen auch mit Bildern und lässt nicht nur die Story walten. Die exponierte klangliche und szenische Gestaltung vereint wie in einem Brennglas die relevanten Themen und Motive. Ursprünglich schwebte dem hochfliegenden Holländer ein Film vor, aus Budgetgründen konnte er das Vorhaben aber nicht realisieren. Die Ouvertüre dürfte ein Relikt dieser Phase sein. Nach diesem außergewöhnlichen Moment entfaltet sich die Geschichte um Liebe und Verrat.
Der Plot erinnert mit seinem historischen Rückbezug an Dream Theaters "Scenes From A Memory" oder auch Avantasias "Mystery Of Time" und "Moonglow". Lucassen verbleibt hingegen nicht in der Realität, sondern bezieht neben den biblischen Rückzugsorten Himmel und Hölle die Übergangswelt Transitus in den Plot ein. Hier finden sich die 'Nicht-gänzlich-Toten' wieder, um ihren Weg in eine der beiden Richtungen zu nehmen.
Gerichtet werden die armen Tröpfe vom Engel des Todes - lasziv und prickelnd von Simone Simons intoniert. Herrlich wie die Epica-Sängerin vor Charme und Witz sprühend den Track "The Human Equation" performt. In der Comicversion wirkt der Mix aus übersinnlicher Magie und kurvenreichem Dekolleté ein wenig überzeichnet, in der akustischen Form überzeugt Simons vollends.
Einzelne Stücke hervorzuheben verbietet sich ob der Fülle an Details in der Story. Einzig das Rock-Doppel "Dumb Piece Of Rock" und "Get Out Now!" sprengt den Rahmen. Hier weicht Lucassen zu Gunsten der Einbindung zweier Sänger von der kohärenten Story ab: Mike Mills, Mastermind der australischen Alterna-Progger Toehider, gibt seine an Freddie Mercury erinnernden Vocalkaskaden als zum Leben erwachte Statue preis. Twisted Sister-Urgestein Dee Snider schmeißt als bitterböser Vater seinen Sohn kurzerhand aus dem Haus, als die Liaison des gut betuchten Daniel, gespielt und gesungen von Kamelot-Fronter Tommy Kareivik, mit der Dienerin des Hauses Abby bekannt wird.
"Transitus" entfaltet seine volle emotionale Wucht bei stundelanger Beschäftigung mit Kopfhörer und durch die starke visuelle Komponente in Form des beiliegenden Comics. Ob der Fan nun sein Kreuzchen bei eklektische Experimente, geistige Größe, magischem Musenkuss oder Kitschkrieg-Prog macht, steht freilich auf einem anderen Blatt. Meiner bescheidenen Meinung nach erfüllt Lucassen sämtliche Anforderungen.
1 Kommentar mit einer Antwort
Warum sehen die Cover von Metalplatten, analog zu Rap, oft so generisch und doof aus, dass man schon komplett abgeschreckt ist?! Wahrscheinlich schade um so manches Kleinod
Das neue Album von Anaal Nathrakh heißt "Endarkenment".