laut.de-Kritik
Die Amis hinken nicht mehr dem Zeitgeist hinterher.
Review von Yan TemminghoffDie Zeiten als kreativer Kompass einer Szene und Mitinitiator des Crossover-Gedankens im Rock sind vorbei. "Pornograffitti" und "Three Sides To Every Story" sind Geschichte, ins Rock-kulturelle Gedächtnis übergewandert und mithin Bestandteil von Live-Jubiläen. Dennoch liefern Extreme auf dem schlicht "Six" betitelten sechsten Album eine beeindruckende Performance ab.
Insbesondere das Zusammenspiel von Stimme (Gary Cherone) und Gitarre (Nuno Bettencourt) sorgt für Begeisterung unter dem Kopfhörer. Dabei hinken die Amis nicht dem Zeitgeist hinterher wie auf "Saudades De Rock" oder "Waiting For The Punchline", sondern besinnen sich auf einen Genre-Cocktail, der bis auf wenige Ausnahmen wie "Beautiful Girls" gut hörbaren Band-Standard abgibt.
Der Einstieg gelingt heavy wie selten in der Bandhistorie. Klar marschieren hier nicht Metallica zu majestätischen Thrash Riffs. Der Funk Metal der Anfangsphase weicht hier einem Groove-lastigen Ansatz, der sich in trockenen Riffs entlädt, die "Rise", "#rebel" oder "Banshee" tragen.
Bettencourt greift direkt beim Opener tief in die Trickkiste und packt ein Füllhorn an Soloeskapaden aus, die von Blues-Licks über Legato-Läufe bis hin zu effektgeladen Highspeed-Passagen reicht. Der in Rihannas Band für die sechs Saiten zuständige Musiker hat seinen Van Halen nicht nur studiert, sondern längst überflügelt.
Dabei tappt Bettencourt wie ein Weltmeister, und gleichzeitig tappt er nicht in die Falle, den immer gleichen Cowboystiefel runterzujodeln. Er passt sich stets der Machart des Tracks an: "Thicker Than Blood" mit seinem elektronischen Vibe spendiert er ein sehr technisches, fast schon mechanisch klingendes Solo, wohingegen der Solospot im akustisch geprägten "Small Town Beautiful" mit einem Seventies- und Blues-Charakter aufwartet. Für alle, die beim Wort 'Gitarrensolo' keine Pickel bekommen, sind die Solo-Spots das reinste Fest.
Auch wenn Cherone reichlich Unterstützung erfährt durch die gut geölten Backing-Kehlen von Pat Badger und Nuno Bettencourt, ist er als Texter und Fronter der Chef in der Sanges-Manege. Nicht nur optisch ein Tarzan, schwingt sich der 61-Jährige durch seine Stimmband-Bandbreite und bleibt ähnlich wie Kollege Bettencourt bei seinen Solo-Parts im Dienste der Machart des jeweiligen Songs.
"X-Out" klingt, als würden Daft Punk Led Zeppelins "Kashmir" covern. Vor dem Solo ergeht Cherone sich in ausladenden und brünftigen Vokalisen, deren Tonfolge Bettencourt aufgreift und zu seinem Solospot weiterspinnt. Der Closer "Here's To The Losers" ist Extremes augenzwinkernde Antwort auf Queens "We Are The Champions". Mitsing-kompatibel und mit reichlich Stadion-Tauglichkeit ausgestaltet. Der Singalong-Refrain dürfte live für strapazierte Kehlen sorgen.
3 Kommentare mit 6 Antworten
Bis auf Beautyful Girls (Grusel) ein echt starkes Album.
Ganz deiner Meinung. Aber dass Nuno es selbst da schafft, ein nicht aufgesetzt wirkendes Solo unterzubringen, hat auch was ...
Ich freu mich auf jeden Fall riesig sie im Dezember live zu sehen. Darauf hab ich schon so lange gewartet.
Bis auf den oben erwähnten Track bestimmt großartig auf der Bühne. Und die alten Großtaten machen auch immer noch Spaß.
Da gehe ich mit. Starke Platte, hätte ich ihnen ehrlich gesagt nicht mehr zugetraut. Freue mich ebenfalls sehr sie endlich live zu sehen.
Gary Cherone 61 Jahre? Wirkt eher wie Ende 30....
Unfassbar talentiert, eigentlich alle vier. Nach wie vor ist aber das Songwriting leider häufig mittelmäßig. Beispiel Chorus Banshee: ein Soundcheck Gitarrenriff als Grundlage. Cherone reißt es freilich raus. Auch Nunos Soli: Unfassbar gut. Irgendwie ist es, als bekäme Bettencourt erst jetzt seine verdiente Aufmerksamkeit als einer der ganz Großen.
Mehr als 3 mittelmäßige Songs sehe ich da nicht, Banshee gehört aber sich dazu.
3/4 des Albums sind schon richtig gut.
Starkes Album mit einzelnen Schwachpunkten, wie ich finde. Klar kann man das Haar (oder die Haare) in der Suppe suchen und zB Banshee einen anderen Chorus wünschen. Trotzdem – mitreißend, speziell die härteren Stücke und für mich überraschend, dass Extreme nach langer Pause nochmal so auftrumpfen kann. Und die individuelle Klassen der 4 steht mE außer Frage.