laut.de-Kritik

Der neue Diabetes Typ 3.

Review von

"Bicstan", der Acid-Überhit von Hudson Mohawkes neuem Album "Cry Sugar" ist der Sound, zu dem Brandenburger Mittvierziger mit Zigge im Mund auf ihren versifften Nikes moonwalken, während ihr zuschaut und in Mountain Dew aufgelöste Zuckerwatte schlürft. Sieben Jahre mussten wir auf ein neues Album von Mohawke warten, gelohnt hat es sich allemal. Der Schotte und langjährige LA-Einwohner Ross Birchard ist seit mindestens einem Jahrzehnt Trendsetter in allem Elektronischen von Club bis Rapproduktion, wie es sonst wohl nur Flying Lotus für sich reklamieren kann. Nicht zuletzt dank TNGHT ist er kommerziell jedoch erfolgreicher.

Auf "Cry Sugar" hat er ein offenes Ohr für Hyperpop gefunden, stellenweise fühlt es sich an wie eine Soul-getränkte Weiterentwicklung seiner Hip Hop-Produktionen - der gute Mann mit der beeindruckenden Kundenliste arbeitet nach wie vor für Kanyes Very Good Beats. Am stärksten merkt man das neben den zahlreichen Soul-Samples bei "Dance Forever", in dem Hudson die Hoover-Synths in Formation zu einem Beat aufmarschieren lässt, und in "Bow", das zu Beginn von "Yeezus" stammen könnte, bevor er sich Richtung Neptunes orientiert.

Gleichwohl bleibt die Verbindung aus Hyperpop und House das prägende Element von "Cry Sugar", nachzuhören im hochgepitchten Werbejingle-Pop "Behold", zu dem man bei PC Music applaudieren wird, ebenso im Loli-Level süßen "Come A Little Closer". Der klassischste House-Track versteckt sich gleich hinter dem R'n'B-Opener "Ingle Nook", nämlich "Intentions", ein hervorragendes Sample-Fest im astralleichten Housegewand. Auch zu Happy Hardcore finden sich einige Querverweise, allerdings atmet "Cry Sugar" eine ganz andere, schwangerere Luft als Fracus & Darwin, hier ist nichts mechanisch und Techno weit weg. Selbst wenn Hudson Mohawke schon immer Sympathie für Happy Hardcore und vor allem Darren Styles durchschienen ließ, passt er nach wie vor nicht in die Ecke, dafür denkt er viel zu sehr in Harmonien.

Die Abwechslung auf "Cry Sugar" ist bemerkenswert, auf das dunkle "Bow" folgt die fröhliche Sommer-House-Fingerübung "Is It Supposed", deren dunkles Gegenstück "Tincture" weiter hinten lauert, und der sorgfältig arrangierte Streicherreigen von "Lonely Days". Was alle Songs auf diesem Album eint, ist ihre Unverwechselbarkeit, ihr Mut, alle Ideen konsequent zu Ende auszuführen. "Stump" klingt wie ein klirrend kaltes Outro, ist aber der sechste Song dieses 19-Stück-Molochs. In seiner epochalen Klarheit erinnert es an Niklas Paschburg, kaum eine Spielart elektronischer Musik, die auf "Cry Sugar" nicht zumindest angerissen wird.

Mit Ausnahme vom eintönigen "Come A Little Closer" sind alle bislang genannten Songs nicht nur handwerklich perfekt, sondern musikalisch abwechslungsreich, gleichzeitig detailversessen und mitreißend. Die Stilblüten werden vom harzigen Karamell des Albums zusammengehalten, eine solche Überdosis Emotionalität gab es im Club bislang selten. Und da beißt die Maus keinen Faden ab, Mohawke macht nach wie vor Musik für die dunklen Tempel dieser Welt. Die Sattheit dieses Werks muss man riechen, fühlen, schmecken, wie im tollen und wie so viele Songs auf "Cry Sugar" im positiven Sinne nicht enden wollenden "Rain Shadow", das in seiner Exaltiertheit an Orlando Higginbottom erinnert.

Doch selbst Birchard gelingt nicht alles: "Redeem" bleibt der Gospel im Hals stecken, "KPIPE" ist mehr Echolot als Song und "Some Buzz" nicht viel mehr als eine soulige Skizze. "3 Sheets To The Wind" gerät etwas eindimensional, der Bass in der zweiten Hälfte macht Spaß, die zündende Idee fehlt aber. Mohawke versteckt auf diesem Album keinen noch so kleinen Flecken, alles wird dem Hörer quasi gleichberechtigt unmittelbar vorgesetzt, alle Muskeln gezeigt, die paar Schwächen aber auch bloßgelegt.

Im Endeffekt ist das Album nur etwas zu lang, sonst würde es für noch höhere Weihen reichen. "Cry Sugar" ist vor allen Dingen wahnsinnig unterhaltend, so wie man sich als junger Mensch vom Land ein Festivalerlebnis wie das Pangea vorstellt (bevor man dort war), alles zu viel und von allem will man mehr, sogar wenn er den Vangelis gibt auf "Ingle Nook Slumber". Mohawke ist auf "Cry Sugar" noch mal deutlich gewachsen und man wird das Gefühl partout nicht los, dass es für ihn doch nur eine Fingerübung war.

Trackliste

  1. 1. Ingle Nook
  2. 2. Intentions
  3. 3. Expo
  4. 4. Behold
  5. 5. Bicstan
  6. 6. Stump
  7. 7. Dance Forever
  8. 8. Bow
  9. 9. Is It Supposed
  10. 10. Lonely Days
  11. 11. Redeem
  12. 12. Rain Shadow
  13. 13. KPIPE
  14. 14. 3 Sheets To The Wind
  15. 15. Some Buzz
  16. 16. Tincture
  17. 17. Nork 69
  18. 18. Come A Little Closer
  19. 19. Ingle Nook Slumbe

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Hudson Mohawke

Drei Jahrzehnte nach Gründung von Postcards Records, die mit Orange Juice und den Go-Betweens die New Wave/Post-Punk Epoche geprägt hatten, läuft ihnen …

3 Kommentare mit 8 Antworten