laut.de-Kritik
Wenn der Bass die Schädeldecke lupft.
Review von Alexander CordasIn der Geschichte der elektronischen Musik dürfte es kaum eine zweite Gruppe geben, die mit genau zwei Studioalben eine jeweils neue musikalische Sprache kreierte und dafür von Kollegen und Fans gleichermaßen gefeiert wird. Somit spielt es keine Rolle, dass schon wieder zehn Jahre vergangen sind, seit Neil Barnes und Paul Daley ihre Band Leftfield aufgelöst haben. Ihr Debütalbum "Leftism" ist für die Ewigkeit geschaffen.
Paul Daley treibt sich Mitte bis Ende der Achtziger noch als Session-Percussionist herum und gibt auf illegalen Partys den Trommel-Heini, arbeitet als Friseur und spielt als Studiomusiker für die Brand New Heavies und auf Primal Screams "Dixie-Narco"-EP. Neil Barnes, Percussionist der London School Of Samba, wurde 1983 Zeuge eines Soulsonic Force-Gigs mit Afrika Bambaataa, bei dem er zum ersten Mal eine Drum-Maschine im Einsatz bestaunen konnte.
Mitte der Achtziger ist das Duo gemeinsam trommelnd unterwegs und verdingt sich in Clubs als rhythmische Untermalung von House-Tracks oder als Staffage auf Acid-Partys und drogengetränkter Action-Kunst in ausrangierten Puffs. Der erste Schritt in Richtung elektronischer Crossover ist also bereits vollzogen.
Neil werkelt in der Folge an "Not Forgotten" herum, das 1990 als erster Release von Leftfield das Licht der Welt erblickt. Bereits dieses erste Lebenszeichen nimmt vorweg, dass hier etwas Vielversprechendes entsteht, klingt der Song doch völlig anders als der damalige Mainstream-Elektro. Dennoch ist "Not Forgotten" reichlich Kinderkram, verglichen mit dem, was noch kommen sollte.
Wir schreiben Mitte der Neunziger: Techno hat sich aus seinem schummrigen Nischendasein befreit und strebt mit immer ausufernderen Veranstaltungen gen Mainstream und Großraum-Disco. Künstlerisch hat klassischer Techno jedoch schon fast alles gesagt, die anarchische Grundstimmung und der kreative Overflow versiegen langsam aber sicher, ehe es spätestens seit Dr. Mottes Friede, Freude, Eierkuchen-Ansprache auf der Love Parade ganz staubtrocken wird.
Und genau in dem Moment, als keiner mehr glaubt, dass es etwas Neues und Belebendes geben könnte, hauen Leftfield dieses Album raus, das den Anschein macht, als sei es ein das leichteste der Welt, Techno, Dub, Ambient, Breakbeat und House unter einen Hut zu bringen.
Aber gemach, denn "Leftism" bricht nicht über den Hörer herein. Ganz sanft schleichen sich die ersten Keyboard-Flächen, Bleeps und dubbigen Drum-Patterns von "Release The Pressure" ein. "I've got to stand and fight in this creation", singt Earl Sixteen mit klarer Stimme, ehe aus dem tiefen Untergrund einer rhythmischen Ursuppe ein Off-Beat ans Tageslicht blubbert, der einen mittels eines explosiven Wummerns am Schlaffittchen packt und wohlig umgibt. Bässe massieren in der Tat die Seele.
Definiert der Opener Dub und Reggae aus einer housigen Perspektive, hämmert "Afro-Left" mit gnadenloser Intensität technoid in die Rübe, dass einem bei erhöhter Lautstärke schwindelig werden kann. Nicht umsonst drehten Daley und Barnes bei ihren frühen Auftritten den Lautstärkeregler auf zwölf, so dass in der altehrwürdigen Brixton Academy der Putz von der Decke bröckelte. Die Folge: Auftrittsverbot.
Das Afrika-Thema taucht hier nicht zum letzten Mal im Leftfield-Kontext auf, verdeutlicht aber zum ersten Mal die rhythmische Verbundenheit mit dem schwarzen Kontinent; selbst wenn das, was sich Djum Djum von der Seele toastet kein afrikanisches Idiom ist, sondern vielmehr improvisiertes Gelaber.
Auf dieser Welle hätte es sich problemlos weiter reiten lassen, aber nichts da: es folgt der Breakdown namens "Melt", der genau zur rechten Zeit um die Ecke kommt, bevor es dem Hörer die Schädeldecke lupft. Ein wunderschön perkussiver Rhythmus übernimmt nach zwei Minuten shuffelnd das chillige Ambiente. Wer auf sphärische Soundtracks steht, erfährt spätestens hier multiple Orgasmen. Nicht umsonst waren und sind vor allem die ruhigen Momente des Albums allerorten als Film- oder Doku-Untermalung zu hören, wenn es darum geht, die Schönheit dieses Planeten anzupreisen.
Einen ähnlichen Shuffle beinhaltet der "Song Of Life". Eine schön dubbige Bassline untermalt das Instrumental, das im zweiten Teil rasant an Fahrt aufnimmt. Das schlurfende Element franst langsam aus und macht einem Hochgeschwindigkeits-Klopfer der Extraklasse Platz. Berg- und Talfahrt in einem Song.
Die Leftfield-Konstruktionen halten sich wohltuend von jedwedem Klischee fern. Weder wird Jah besungen, noch ertönen alberne Techno-Fanfaren beim Breakdown, die einen Kindergeburtstagsumzug nach Lummerland ankündigen. Vielmehr ziehen Barnes und Daley einen tönenden Film über die Bühne, den es in dieser Intensität im Elektrobereich vor 1995 noch nicht gegeben hat. Kollaborationen wie die mit Curves Toni Halliday bei "Original" machen das Arbeitsethos des Duos offensichtlich: Das Naheliegende ist uninteressant. Im Indierock beheimatet, verleiht die Sängerin dem Lied schon fast den Charakter einer Trip Hop-Blaupause, an dem sich Produzenten abzuarbeiten hatten.
Stilistischer Purismus war dem Duo ein Gräuel. Das dürfte auch ein Grund dafür sein, weshalb das Album gerade auch auf diejenigen eine so große Anziehungskraft ausübte, die mit elektronisch generierter Klangkunst normalerweise so gar nichts anzufangen wussten. Spitzenreiter im Verbinden verschiedener Stile dürfte der Hit des Albums schlechthin sein: "Open Up". Klagend kündigt John Lydon sein "burn burn burn" an, ehe ein straighter Beat das klangliche Feuer entfacht. Wenn das nicht Punk ist, was dann? Trotz Lydons Umtriebigkeit gab es überraschte Gesichter, als der Song bereits 1993 in die englischen Charts stürmte.
Nach diesem Kotzbrocken kommt Lemn Sissay zu Wort, der im "21st Century Poem" Fragen an die Menschheit richtet. Der melancholische Schlusspunkt lässt einen fast wehmütig an die vergangenen knapp 70 Minuten Musik zurückdenken. Man wünscht sich wieder zurück an den Anfang. Und auch hier haben Leftfield noch einen letzten sarkastischen Gruß im akustischen Köcher, da das Album mit einem als Hidden Track getarnten subsonischen Bassgewummer ausfadet. Wer da noch seine Anlage auf zwölf stehen hatte, darf sich von seiner Bassbox verabschieden.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
17 Kommentare
Persönlich gefällt mir Rhythm and Stealth mehr. Big beat(s) wie Phat Planet und Dusted sind Über-Songs. Leftism hat hingegen den Pionierbonus und mir die Ohren für Acts wie Proppellerheads geöffnet. Dafür bin ich Leftfield ewig dankbar.
Sehr schöner Meilenstein. Das Album war für mich gemeinsam mit Underworlds Second Toughest in the Infants der Einstieg in die tanzbare Elektronik. BTW: Johnny Lydon dürfte einigen vielleicht unter einem anderen Namen bekannt sein: Johnny Rotten (Sex Pistols).
Schon ewig auf meinem Amazon-Wunschzettel!
Wo bleibt die "TNGHT" Review?
Trotz weitgehend anderer Soundkulissen fällt 'Leftism' für mich popkulturell in diese Sparte 'Als die Rocker tanzen lernten...'.
In einer Zeit, in der gepflegte Kette-an-der-Hose-Alternativos im Club mehr und mehr auch zu Platten der Chemical Brothers, Primal Scream, Underworld oder Prodigy abspackten, platzierten Leftfield mit 'Leftism' einen soundmäßig sehr eigenen, und doch szeneübergreifend akzeptierten Elektrodampfhammer.
Zur 'great women in music'-Diskussion möchte ich Harri beipflichten. Gerade, wo in den letzten 2 Wochen die Ladies mit Depenbusch, Hunger und Khan nochmal eindrucksvoll gezeigt haben, wo sie anno 2012 im Bizz stehen, wird es Zeit, die Geschichte erfolgreicher Musikerinnen mit einem Meilenstein zu würdigen.
this beautiful creature hat seit zwei wochen nix mehr geschreiben. oder arbeitet er an einer studie über uns, welche uns demnächst erschlagen wird?