laut.de-Kritik

Licht aus! Blockbuster!

Review von

Nach etwas mehr als 7 Minuten erfolgt die Hommage, auf die man angesichts des Weltraumthemas wartete: "His boss made him clean all the cars / While he wondered: Is there life on Mars?", singt Steven Wilson und ehrt damit eines seiner großen Idole. David Bowie stellte 1971 auf "Hunky Dory" die berühmt gewordene Frage nach der Existenz außerirdischen Lebens auf dem vierten Planeten unseres Sonnensystems. 54 Jahre später hebt Wilson mit zwei Longtracks für knapp 42 Minuten in den Weltraum ab. Sein Auftrag: uns Erdlingen via "The Overview" das Phänomen näherzubringen, das Astronauten bei ihrem ersten Blick auf Mutter Erde erleben. Für die achte LP seiner Solokarriere fährt der einstige Wiederbeleber des Prog Rocks eine Marketingkampagne auf, wie sie selten ein Album erlebte: wissenschaftliche Exkurse Wilsons in den sozialen Netzwerken, Albumpräsentationen in Medienhäusern, Vorführungen mit zugehörigem Film auf Großleinwänden. Alles, wirklich alles schreit: "Blockbuster!" Und was tut das heutige Chamäleon des Rocks musikalisch, nachdem das Licht ausgeknipst wurde? Es liefert tatsächlich einen eskapistischen Blockbuster ab – im Guten wie im Schlechten.

Der Logik des zeitgenössischen Mainstreamkinos folgt Wilson bereits im Intro des ersten Longtracks "Objects Outlive Us": "No Monkey's Paw" leitet er ein durch im Falsett gesungene pathetische Worte, unterlegt mit massig Reverb: "I incline myself to space." Warum das? Erfährt man nicht. Im Moor begegnet das sich dem Weltraum hingebende lyrische Ich einem Alien, mit dem es offensichtlich bereits vorher Bekanntschaft gemacht hatte. Das extraterrestrische Geschöpf raunt mit Wilsons in vadereske Gefilde abgesenkter Stimme stakkatoartig, als bewerbe es sich um eine Wiederverwendung seines Beitrags in einem Star-Wars-Trailer: "Did you forget I exist?" Wilsons melancholisch gestimmtes lyrisches Ich antwortet: "Yes, but you played too hard to get." Wieder drängt sich dieselbe Frage auf: Warum? Nun ja, weil es die Logik eines Blockbusters verlangt, auch die eines musikalischen Blockbusters. Pathos ist wichtig, denn Pathos schafft Gänsehaut, Logik hingegen nicht so sehr. Warum der Albumeinstieg trotzdem überzeugt? Wegen des stilvollen Ambients, des überzeugenden Gesangs und der – bei Wilson seit "In Absentia" quasi zum Standardrepertoire gehörenden – Edelproduktion. Fürs Hirn ist das Intro des Albums nichts, fürs Herz aber schon. Umso irritierender, dass jenes Herz in den folgenden 40 Minuten zu kurz kommt ...

Das Intro geht über in einen harmonischen Part, der von Wilsons Akustikgitarre und Adam Holzmans Keyboard getragen wird. Wilson singt partiell von Andy Partridge verfasste Kalendersprüche der gehobenen Art ("The buddha of the modern age / Is barely paid minimum wage"). Nicht nur die Lyrics erinnern in ihrer drolligen Naivität stark an den jungen Jon Anderson, sondern auch die Intonation Wilsons, was der als Sänger notorisch unterschätzte 57-Jährige als großes Kompliment verstehen darf. Im Abschnitt "Objects: Meanwhile" folgen ABBAeske Gesangslinien, die er ebenfalls bravourös meistert. Der Wohlklang wird jäh unterbrochen, als die Zeilen "Still, silence arrives, when a nebula dives / Into our Milky Way" das Kommando für Wilson am Bass, Russell Holzman an den Drums und Randy McStine an der Gitarre geben. Die brachiale Instrumentalpassage ist schlicht großartig. Doch sie fügt sich nach dem Ambient-Intro auf der Höhe der Zeit und den folgenden, durch den Andromedanebel der 1970er-Jahre fliegenden Retro-Passagen nicht ins vorherige Sounddesign ein – ein Grundproblem des Albums. Wie kommerziellen Zwängen unterliegende Popcornkino-Regisseure möchte es Wilson, so scheint es, auf "The Overview" möglichst vielen recht machen: den Ambient-Freunden, den Dream-Theater-Anbetern, in allererster Linie aber dem Teil der alteingesessenen Progger, der ihm seine (großteils gelungenen) Pop-Ausflüge ab "To The Bone" übelnahm. Aus den ausnahmslos hörenswerten Einzelteilen des ersten Teils des Albums ergibt sich kein kohärentes Ganzes. Die grundverschiedenen Elemente von "Objects Outlive Us" als einen Track zu verkaufen, wirkt nicht weniger konstruiert als anno dazumal die Behauptung, bei der ersten "The Incident"-Seite handele es sich um einen zusammengehörigen Track.

Der Überwältigungslogik folgt auch der Abschnitt "Ark", in dem unser Astronaut einen Blick auf die Erde wirft und – wir befinden uns schließlich trotz aller ungewohnten Harmonieseligkeit immer noch auf einem Steven-Wilson-Album – einen negativen Overview-Effekt erlebt: "We move / on through / so dead / so black / the void / and still / back there / in dust / the earth / destroyed." Russell Holzman klöppelt nach dem marvelesken Stakkato-Pathos drauflos, leitet über in den Abschnitt "Cosmic Sons Of Toil", der das Erleben des Overview-Effektes nach dreiminütigen Prog-Metal-Klischees klingen lässt, die Wilson doch angeblich, wie er jahrelang in Interviews betont hatte, so leid war.

Nach der minimal variierten Wiederholung des Alien-im-Moor-Intros beendet die Passage "Heat Death Of The Universe" "Objects Outlive Us". Wie die klingt? Nach Yes, ABBA, Dream Theater? Nein, endlich einmal nach Wilson selbst. Ein fast vierminütiges Gitarrensolo, das an die psychedelischen Anfangsjahre Porcupine Trees erinnert, berührt in seinem Minimalismus im Gegensatz zum Großteil des vorangegangenen und folgenden traumtheatralischen Brimboriums, geht über in eine (leider zu kurze) gruselige dissonante Passage, die an György Ligetis "Lux Aeterna" gemahnt.

Und dann? Folgt in Form des Titeltracks eine Art überlanger Epilog mit dem einzigen narrativen Zweck, unseren Astronauten wie einst Stanley Kubricks David Bowman quer durchs All geistern zu lassen. "The Overview" wartet mit einem homogeneren Sounddesign auf als "Objects Outlive Us", irritiert aber mit seiner angesichts des Songthemas fehl am Platz wirkenden Feierlichkeit.

Zunächst zählt Wilsons Ehefrau Rotem mit allzu bedeutungsschwangerer Stimme zu Ambientsounds, die an den frühen Aphex Twin erinnern, vier Minuten lang die Himmelskörper auf, die der Astronaut passiert. In seinem Popcorn-Prog-Album hält sich der Meister aller Genres nicht an das "Show! Don't tell!"-Gebot. Dass die Passage wie eine B-Side des (grandiosen) Titeltracks des Vorgängeralbums klingt, mag Zufall sein oder nicht: Die Zeile mit den "trillion stars in a billion galaxies" hätte sich diesmal inhaltlich besser eingefügt als in "The Harmony Codex". Immer wieder wünscht man sich, dass irgendein Anhalter die nahezu perfekt produzierte, aber aalglatte Gigantomanie der Galaxis ironisch oder zumindest überraschend bricht. Zumindest eine kleine Überraschung folgt in der Passage "A Beautiful Infinity II" nach knapp vier Minuten in Form einer durchaus gewagten gesanglichen Doppelreferenz an Boney M. und die Beatles aus der psychedelischen Phase ("Mystery"! Kennste, kennste?). Leider wirkt selbst das zu ernst, um spaßig zu sein.

"Infinity Measured In Moments" fährt alles auf, um im Soundkosmos der 1970er-Jahre schwebende Babyblaue-Seiten-Leser zum Schmelzen zu bringen: Rotem Wilsons gedankenvoll vorgetragene Kosmoskenntnisse, Krummtaktklatschen und ein (großartiges) Synthsolo Adam Holzmans. Die lynchsche (oder von mir aus auch harmonykorinsche) "Insurgentes"-Arthouse-Zeit mit ihren unerwarteten Noise-Ausbrüchen ist endgültig passé, das ganz große Pathos regiert im reibungslosen Raum.

Das Album klingt aus mit harmonischem Ambient und einem Saxophon, Easy Listening, einem musikalischen Happy End also. Wie in den meisten Christopher-Nolan-Filmen folgt die Dramaturgie trotz aller technischen Raffinesse alten Regeln, um niemanden zu verprellen. Der Vorhang fällt, insbesondere der konservative Teil der Progger hat bekommen, was er wollte, der absehbare kommerzielle Erfolg wird Wilson recht geben.

Im zugehörigen "The Overview"-Film findet das zu Beginn des Albums in Erscheinung getretene Alien übrigens auf einem fremden Planeten inmitten einer Kraterlandschaft eine Pflanze – eine Erfindung des Regisseurs Miles Skarin, wie Wilson betont. Auf der Leinwand beantwortet das heutige Chamäleon des Rocks David Bowies Frage also eindeutig. Und auf dem Album? Ebenfalls – aber anders. Ausgerechnet der Meister der Longtracks und der in der Vergangenheit stets authentisch dargebotenen Emotionen, der Meisterwerke wie "Buying New Soul" und "Anesthetize" schrieb, verheddert sich in "The Overview" im Netz der Auf-Teufel-komm-raus-Longtrackerei und des ganz großen Pathos, das mitunter aufgesetzt klingt. Die sonst so unverkennbare instrumentale, gesangliche und kompositorische Handschrift des Ausnahmekünstlers ist im Referenzensammelsurium nur noch partiell erkennbar. Es tönt gewaltig und bleibt doch überraschend leblos. So hart das emotionale Fazit angesichts der zahlreichen Stärken von "The Overview" auch klingt: There's no life on Mars!

Trackliste

  1. 1. Objects Outlive Us
  2. 2. The Overview

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11 Kommentare mit 20 Antworten

  • Vor 12 Tagen

    4/5 würde ich schon geben. Mir gefällt auch tatsächlich der erste Song mit seiner Sprunghaftigkeit besser als der Titeltrack.

    Außerdem 8/5 dafür, dass in der Review nicht das Wort "Wunderwuzzi" auftaucht.

  • Vor 12 Tagen

    Dieser Kommentar wurde vor 12 Tagen durch den Autor entfernt.

  • Vor 12 Tagen

    Stellenweise erinnert es mich an den Steven Wilson, den ich sehr mag. Und größtenteils klingt es wieder nach "Auf Nummer Sicher". In den meisten Fällen hat man die nächsten zwei Akkorde schon gehört, bevor sie erklingen, weil Wilson sie gefühlt IMMER bringt.

    Ich fürchte, er möchte in diesem Leben seine Horizonte nicht mehr erweitern. Seine Ausflüge in Pop und Synthpop waren eher Kaffeefahrten - nichts davon blieb hängen, sie waren eher verkopfte Idee als intensiver Drang. Seine ersten Soloplatten lege ich zwischendurch gerne mal auf. "Grace for Drowning", "The Raven...", "Hand. Cannot. Erase" usw. Alles danach klingt auf verschiedene Weise unmotiviert.

    • Vor 12 Tagen

      Ich verstehe ehrlich gesagt die negative Reaktion auf To The Bone nicht so richtig, nicht bei dir im Speziellen, sondern allgemein unter den Fans. Ich glaube, da überschattet bei vielen der Ersteindruck zu "Permanating" das restliche Album. Mit "Pariah", "Same Asylum" und "People Who Eat Darkness" sind da einige meiner Lieblings-Wilson-Stücke aus jüngerer Zeit drauf.

    • Vor 12 Tagen

      Weiß nicht, wie es anderen Fans so geht... Mir ist "To The Bone" einfach komplett egal. Ich höre die Tracks, und habe sie sofort wieder vergessen. Wirkt auf mich wie ein Randprojekt von richtig guten Musikern, die drei Tage lang zusammen gespielt haben, und dabei sind halt ein paar Söngchen entstanden. Erster Entwurf, zack, raus fertig.

      Habs noch mal gehört... Bei "Overview" bin ich wirklich erstaunt, wie wenig Wilson aus dem Konzept "Weltall" macht. Ganz am Anfang ein paar verlorene Reverbs, selten mal ein bisserl Soundteppich... Die Passagen dazwischen sind quasi alle verflucht brav, und könnten von jeder anderen Wilson-Platte kommen. Wie gesagt: Teils wirklich gute Stellen, aber im Arrangement komplett am Thema vorbei. Klar, "das All" muss nicht gleich wie die "Embryonic" von den Flaming Lips klingen. Aber warum klingt es hier so oft wie jede andere typische Studioaufnahme...?

    • Vor 12 Tagen

      Tatsächlich hat Wilson das Thema "Weltall" bereits auf dem Vorgängeralbum mit dem zehnminütigen Titeltrack "The Harmony Codex" viel besser abgearbeitet und zwar mit traumhaft schönen Arpeggios, Ambient-Synthflächen und lyrischen Verweisen wie:

      It seems I’m miles above the surface of the earth
      I can see across the whole of London and beyond
      Lights from a thousand cities
      Towering buildings in far off places
      Ships and thunderstorms at sea and beyond
      A trillion stars in a billion galaxies
      I gaze out across the millennia it took the lights from these
      Stars to reach the earth
      I close my eyes
      And breathe

      Ebenso beim superben Instrumental "Regret #9" auf der HCE. Wüsste man nichts vom Konzept von "The Overview", so wäre es typischer Wilson-Prog.

    • Vor 12 Tagen

      Kapiere den Hass gegen To The Bone auch nicht. Ja, Permanating ist gewöhnungsbedürftig und die Pseudo-Progstücke (Titeltrack, Refuge, Darkness, Detonation) sind teils gruselig ungelenkig.

      Mit Pariah, Same Asylum und Song of Unborn sind da aber absolute Karrierehighlights drauf.

      Da war Future Bites der wesentlich grössere Griff ins Klo (ausser King Ghost und 12 Things, gutes Zeug), aber da spielte einfach auch die Welt nicht mit. Denke das hätte in einem Nicht-2020-seienden 2020 durchaus verfangen können.

    • Vor 11 Tagen

      Verrückt. Stimme 100% mit c4 überein. Kultur ist doch was Schönes, nicht?

      Abgesehen davon: Warum gehts denn so viel um die "To The Bone"? Hat die hier irgendwer gehasst? Nach meinem Eindruck wird die halt nicht so viel gehört, vielleicht mal für langweilig gefunden. Besonders viel Aufmerksamkeit in irgendeine Richtung hat sie nicht bekommen.

  • Vor 7 Tagen

    oh, viel Geschwafel hier. Mir gefällt die Musik.

  • Vor 6 Tagen

    Mich hat das Album bisher nicht abgeholt.
    Erinnert mich an The Incident. Viele Skizzen und Stückwerk, dass zwar handwerklich gut zusammengebastelt ist und damit irgendwie auch ein Konzept ausfüllt, aber einfach nicht berührt. Es gibt immer wieder Momente, die toll sind und dann wird man rausgerissen und mit einem eher mäßigen Part abgespeißt. Wenn ich persönlich die ganz alten PT-Sachen und seine neuen Werke so anschaue und dann die Hochzeit von PT um die Jahrtausendwende betrachte, scheint es so, dass es bei Wilson um das Songwriting nicht weit her ist. Ich denke, damals hat die Band ihn wohl in die richtige Bahnen gelenkt und ihm ein passendes Korsett geschnürt.

  • Vor einem Tag

    Mir reichen dreimal Durchhören nicht für ein abschließendes Urteil. Viel hängen geblieben ist bislang aber leider nicht, außer einer gewissen Sperrigkeit und Künstlichkeit, die meine Motivation weiter einzutauchen etwas hemmt.

    • Vor einem Tag

      Ja, hatte pflichtbewußt auch schon einige Durchläufe hinter mir - einfach weils Steven Wilson ist. Bleibt aber bisher komplett beim Ersteindruck: Sehr unkreativ, gewöhnlich, plätschert ohne große Atmosphäre vor sich hin. Wenn ich besonders ungeduldig bin, fühle ich, dass das auch in irgendeinem Café im Hintergrund durchlaufen könnte, und es würde niemanden von irgendetwas ablenken. Komischerweise waren seine ungeliebten Popscheiben um Welten mutiger und ambitionierter. Na ja, kann sich in ein paar Wochen geändert haben, aber halte das für unwahrscheinlich.