laut.de-Kritik
Trauer, Wut, Sinnlichkeit und ein Kanye West-Cover.
Review von Toni HennigMit "Rest" veröffentlichte Charlotte Gainsbourg 2017 ihr bislang bestes Album. Der Platte ging der Tod ihrer Halbschwester Kate Barry voraus, die am 11. Dezember 2013 in ihrer Pariser Wohnung Suizid begangen hatte.
"Such A Remarkable Day", der Opener ihrer neuen EP "Take 2", versetzt uns in diese tragische Zeit zurück, wenn Charlotte im Refrain mit nachdenklicher Stimme fragt: "Such a remarkable day / How did you choose this Wednesday?" Demgegenüber scheint, wenn die Nummer mit ihrer infektiösen Mischung aus nostalgischem Chamber Pop und modernen Disco-Einflüssen nach vorne schreitet, aber jegliche Tristesse verflogen.
Insofern war es eine gute Entscheidung, den Track nicht auf besagtes Album zu packen, das noch von einer gewissen Schwermut durchzogen war. Schließlich steht die einst sehr pressescheue 47-jährige Sängerin und Schauspielerin, die seit vier Jahren mit ihrer Familie in New York wohnt, nun mit beiden Beinen selbstbewusst im Leben.
Vielleicht schlägt sie gerade deswegen in "Bombs Away" ungewohnt politische Töne an. Sie singt von einer Königin, die nach Paris und London zurückkehrt, von gewaltsamen Aufständen und einer Metropole, die in Rauch und Flammen aufgeht. Gegen Ende heißt es: "Babylon's burning and a dynasty ends / Enemies, enemies will never be friends".
Ob die Tochter einer berühmten Schauspieler- und Musiker-Familie tatsächlich von der sozialen Ungerechtigkeit, die sie in Amerika tagtäglich wahrnimmt, endgültig die Nase voll hat oder nur als Beobachterin die aktuelle Stimmung der einfachen Menschen in großen Teilen Europas zusammenfasst, bleibt im Vagen. In einem Interview sagte sie kürzlich, dass sie "verstehe, wofür die 'Gelbwesten' eintreten", aber "diese kriegsähnlichen Verhältnisse" traurig finde.
Der Song entstand wahrscheinlich vor den Protesten der 'Gilets Jaunes' gegen Macrons Reformpolitik. Die Zeilen, die sie gemeinsam mit Sebastian aus dem Ed Banger-Stall (zugleich ihr Produzent seit "Rest") und Ezra Koenig auf Papier brachte, lassen sich dennoch auf die Wut vieler Franzosen gegen die jetzige Regierung eins zu eins übertragen.
Dazu ertönen ein trockener 4/4-Drumbeat, ein präzises Klavierund synthetische Streicher, die in einen eingängig hymnischen Pop-Refrain münden, der sich schon beim ersten Hören unmittelbar im Ohr einnistet. Schnörkellos kommt der Track knackig auf den Punkt, während Gainsbourg den Text beiläufig hinhaucht - eines der großartigsten Stücke ihrer Karriere.
"Lost Lenore" wartet mit schwebender Elektronik auf, die an ihr verträumtes Album "5:55" erinnert. Die orchestralen Einschübe versprühen dabei majestätische Sinnlichkeit. Der Song zeugt von sehr viel Eleganz, zumal sich die Französin in den Strophen auf ihre Muttersprache besinnt.
Im Anschluss sorgen noch zwei Livetracks für Abwechslung. Allen voran die Neuinterpretation von Kanye Wests und Pusha Ts "Runaway", die Gainsbourg zu Beginn des Jahres in der französischen TV-Show "Taratata" präsentierte. Bei ihr klingt das Stück allerdings mehr nach intimer Bedroom-Atmosphäre denn rhythmisch souligem Hip Hop. Wenn sie zu sphärischen R'n'B-Klängen fragil und zurückhaltend "Run away from me, baby / run away" ins Mikro säuselt, kommt der zeitlos schöne Charakter der Hookline hervorragend zur Geltung - im Original verschwindet dieser fast unter der ausgeklügelten Produktion.
Eine etwas abgeänderte Version von "Deadly Valentine" rundet das Kurzformat ab. Retrofuturistische Synthies verleihen der Nummer eine harte und direkte Ästhetik, ohne die betont basslastige Rhythmik der Albumversion aus den Augen zu verlieren. Wenn in der zweiten Hälfte euphorische Rave-Sirenen im Zusammenspiel mit dem Geflüstere der Mittvierzigerin die Spannung fortwährend steigern, entwickelt der Song echte Bangerqualitäten. Ihre bemerkenswerte Bandbreite als Künstlerin unterstreicht Gainsbourg mit "Take 2" eindrucksvoll.
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"Ob die Tochter einer berühmten Schauspieler- und Musiker-Familie tatsächlich von der sozialen Ungerechtigkeit, die sie in Amerika tagtäglich wahrnimmt, endgültig die Nase voll hat oder nur als Beobachterin die aktuelle Stimmung der einfachen Menschen in großen Teilen Europas zusammenfasst, bleibt im Vagen." Vermutlich war sie einfach nach längerer Zeit mal wieder in Paris...