laut.de-Kritik
Tanzkurs für den Tannenbaum: Swing, Steh-Blues, EDM.
Review von Philipp KauseAlle mischen mit, wenn Cher das Weihnachtsfest auf ihre Art begeht. Genres, Brauchtums-Motive und singende Gäste präsentiert ihr Themenalbum "Christmas" reichlich. Die Grande Dame des augenzwinkernden Mainstreams bezieht das ausgelutschte Thema fresh und konventionsbrüchig auf Rockabilly, EDM, Steh-Blues, Urban Trap-08/15-K.I.-Beats, Northern Soul, Autotune-Rummelplatzmucke und Motown-Sound.
In ihren Augen liegt darin wohl ein großer Schritt, wie man dem Werbe-Teaser auf YouTube anmerkt: Dort tritt sie sehr begeistert von sich selbst auf. Der reine Brückenschlag zwischen eigentlich unvereinbaren Flecken auf der großen Landkarte der Populärmusik gibt zwar noch keine Garantie für eine gute Platte ab. Allerdings verlangt er nach einer Auseinandersetzung im Kopf: So wie sich bluesige, rock'n'rollige und Sixties-soulige Sounds mit Eigenschaften wie 'echt', 'handgemacht', 'ursprünglich' und 'altmodisch' verknüpfen, platte Electro-Spielarten hingegen als 'Fake', 'Laptop-Musik', 'modern' und 'für junges Publikum' gelten - so einfach ist es anscheinend doch nicht. Cher kreuzt Tracks in einer Musik, die vor ihrer Zeit aktuell war ("Run Run Rudolph"), mit solcher, die man zuallerletzt von einer 77-Jährigen erwarten würde ("Drop Top Sleigh Ride (with Tyga)").
Es scheint überhaupt ihr Liebstes, kollektive Annahmen infrage zu stellen, dabei schielt ein Albumtitel wie "Christmas" auf stereotypes Kopfkino zu diesem Thema in uns allen. Wo man z.B. Romantik mit Kerzenschein, Pariser Eiffelturm und Montmartre, Sonnenuntergängen und roten Rosen verbindet, sind wir für Weihnachten auf bestimmte Düfte, Kulissen und Klänge konditioniert.
Cher riskiert jetzt zwar kein Death Metal-"Christmas". Gleichwohl räumt sie das große Gesamtwerk des Weihnachtsliedguts mit der zu 99 Prozent üblichen Ideen-Matrix von Sanftheit, Pomp, Besinnlichkeit, Glitzer und purer Harmonie vom Tisch. Advent und Weihnachten sind längst nicht mehr so, im Zeitalter von Digitalisierung, Patchwork-Familien, Kommerzialisierung, Kirchenaustritten, Kinderarmut, einsamen Rentner*innen, multikulturellen Metropolen, und weiße Weihnachten gab's hierzulande eine gute Handvoll in den letzten 50 Jahren. Chers Deklaration des 'Anything Goes' ist also absolut ehrlich, weil sie dem Rechnung trägt, was viele fühlen.
Der Pragmatismus, nur noch den damit verbundenen Stress zu vermeiden, spiegelt sich bei der lieben Cherilyn in Sound-Gewändern, die zwar Sehnsucht nach Prunk und Vorfreude offenbaren, zugleich aber auch klar machen, wie alltäglich, artifiziell und abgekoppelt vom Leben des restlichen Jahres der ganze Trubel heute wirkt. Cher setzt bewusst auf eine Mischung unterkühlter und warmer Klänge, um gar nicht in die Falle einer saisontypischen Einlull-Platte zu tappen. Und sie trägt nicht dicker auf, als es glaubhaft wäre, womit "Christmas" nebenbei ein Statement setzt: Lasst hohe Erwartungen an dieses eine übermächtige Datum des Jahres doch einfach im Nikolaus-Sack!
Trotz aller Emanzipation vom scheinbar korrekten Audio-Outfit eines Advents-Albums lässt Cher das Rentier Rudolph den Schlitten ziehen, Engel erscheinen, betont Stille in Städten, Schnee und Sternenhimmel, plakatiert Heimeligkeit, Heimkommen und Happy End-Anspruch im Kontrast zu Kälte und Dunkelheit. Je ein Mal spielt die Platte ein paar jeweils typische Musik-Phänomene in den Wochen von Mistelzweig und Tannennadel an: Easy Listening-Jazz ("Santa Baby"), bluesy Swingpop ("I Like Christmas") und Hookline-gierigen Dudel-Wumms ("Angels In The Snow").
Welchen Mehrwert die Feature-Injektionen von Tyga über Bublé bis Cyndi Lauper leisten, beantwortet das Album nicht. Dafür ein Teaser auf YouTube: So kam die Künstlerin eben gut in Fahrt. Insoweit hat Chers Wandlung von "I Got You, Babe" und ihren Lehrjahren bei Phil Spector zur Miss Autotune kein rechtes Ziel gefunden, wo sie mal bei sich selber ankäme. Ihr weiter Weg vom Soft Rock der 70er zum ABBA-Cover-Act (2018) erlaubt ihr auf "Christmas" einen enormen Facetten-Reichtum, wo sich ihre Stimme jeweils einfügen lässt, ohne dass sich noch irgendwer wundern würde. Andererseits fehlt etwas wirklich künstlerisch Eigenständiges und Eigenes.
Entscheidend ist, dass und wie Cher Weihnachten auf einen realistischen Rahmen reduziert und mit ihrem eigenen Massen-Kommerzprodukt die entzauberte Realität der Festtags-Magie in eine Form gießt, die munter und mühelos durch zehn Jahrzehnte Musikgeschichte gleitet. Möglich, dass ihr der eigene Glaube als Buddhistin einen anderen Zugang zum Thema erlaubte. Allerdings könnten streng religiöse Christ*innen unter ihren Fans nun Zeter und Mordio kreischen, weil sie sich überhaupt so respektlos in eine Spiritualität einmischt, die ihr ganz offen wenig bedeutet. Mit Heiligenschein gab es sie während ihrer Tour 2019 auf der Bühne zu sehen, während der Buddhismus wie auch das Christentum und mehrere weitere Religionen die Vorstellung des 'Engels' kennen. Stimmig wirkt der oberflächliche Ansatz Chers dennoch nicht, legt aber den Finger in die Wunde tausender anderer Christmas-Alben, die weitaus oberflächlicher immergleiche Evergreens brav nachspielen, damit Major-Labels damit Knete machen.
Ein wirklicher Genuss bei Frau 'Forever-Young' sind das Melodica-Solo von Stevie Wonder in "What Christmas Means To Me", ein zweiter Soul- und Rhythm-and-Blues-Ausflug in "Christmas (Baby, Please Come Home) (with Darlene Love)" und das interessante Schlusslied "This Will Be Our Year", das anmutet, als hätte Elton John es mit Jeff Lynne und Paul McCartney komponiert. Tatsächlich stammt das Stück von Chris White von The Zombies aus einem Psychedelic-Folkrock-Meilenstein des Jahres 1968. Von Chris White sang Cher bereits noch früher, 1966, ein Lied mit ihrem damaligen Partner Sonny Bono.
Vorweihnachtszeit - das heißt oft Spendenaufrufe und Träume von prachtvollen Geschenken. Chers eigene Biographie quasi von der Tellerwäscherin zur Millionärin hätte hierzu einen guten Background für ein noch weiter reichendes Konzeptalbum abgegeben, statt eines Namedropping-Puzzles. Aus "Christmas" muss sich derweil jeder die guten Momente selber raus picken, allerdings springt nirgends ein Hit-Funke über, so löblich das Konzept auch ist.
3 Kommentare mit 5 Antworten
neulich mal wieder bei South Park gesehen
https://www.youtube.com/watch?v=1ptQatdjOFM
"Ur-Ur-Uroma, gucke mal ich hab dieses Cover für dich gemacht!"
Komplett rätselhaft, wer immer diese Weihnachtsalben kauft. Klar gibts ne riesige Schnittmenge, aber irgendwie kann ich jenen Konsumenten von Schlager und Reality-TV-Star-Produkten eher ein Klientel zuschreiben als diesen.
Ich hab ma das Weihnachts-Albung von Bright Eyes gekauft. Das ist ganz gut.
Ausnahmen und so. Bright Eyes hatte ich auch länger nicht mehr ausgecheckt, bzw. den Faden nach dieser guten Platte mit dem grundlos langen Titel verloren...
Ich mochte in der Grundschule das Weihnachtsalbum von den Toten Hosen
Weihnachten im Elfenbeinturm von Morlockk Dilemma und Dexter
angry johnny & the killbillies haben 1 weihnachtsalbum "bang bang baby bang bang- merry christmas" es ist sehr gut. wie alles von angry johnny
https://www.youtube.com/watch?v=fd1qVIhzfpE