laut.de-Kritik
Tolles Gesamtkunstwerk, nicht zum Parallelhören geeignet.
Review von Franz MauererJa, ja: "Parallel" und "871" sind offiziell eigenständige Alben. Aber wer zwei Kunstwerke am selben Tag veröffentlicht, der muss damit leben, dass die Kritik "Doppelalbum" schreit, und dementsprechend reviewe ich hier beide auf einen Schlag. Kieran Hebden alias Four Tet (aka Wingdings bzw. unaussprechlicher Name in Wingdings-Font) ist für Elektro mittlerweile das, was Flying Lotus für Hip Hop ist: konstant einige Jahre voraus. Seine Anfang Dezember veröffentlichte zweite EP mit Thom Yorke und Burial und sein anstehendes Album mit Madlib zeigen, in welchen Bahnen und welcher Breite der Mann mittlerweile unterwegs ist.
"Parallel" macht gleich mal eine Ansage mit "Parallel 1", einem 27-minütigen Meer an Song. Schwillt an, zieht sich zurück, ein verspielter Drone wie Brandung im Inneren einer Höhle tief unter einer Insel. Abgerundet mit einem wunderschönen Rausschmeißer, wie Massive Attack ihn schon länger nicht mehr geschrieben haben. Das ist letztlich vermutlich Ambient, aber so packend und pulsierend, dass es eine reine Freude ist.
Angesichts der Dauer von "Parallel 1" unterteilt sich das Album ganz natürlich in zwei Teile. Auch die Songs 2-10 halten aber die entspannte Stimmung, die angenehm an den Ozean und an Jaar erinnert, aber nicht aus der Klassik, sondern wahrnehmbar aus dem House kommt. Microhouse wäre wohl ein potenziell geeignetes Etikett für clubtauglichere Songs wie "Parallel 2", der einen tollen Beat mit phasenverschiebenden Synths kombiniert und ab einem Viertel eine karibisch anmutende Soundfigur zugeschustert bekommt, die ihn endgültig großartig macht. Augen zu, an Sonntagnachmittag in der Panorama Bar denken; keine Sorge, sagt diese Musik, das wird wieder (und geputzt haben sie da in der Zwischenzeit eh nicht).
Überhaupt sitzen die Vocal Samples beachtlich, auch "Parallel 4" schielt erst in Richtung ruhigerer Daphni-Song, zieht dann aber beachtliche Kraft aus einem als Fioritur um sich selber kreisenden Gesangspart, der großartig mit dem verspielten Beat verschmilzt. Mit "Parallel 6" wartet schon der nächste Übersong auf, ein flirrendes Etwas voller trockener Percussion, der perfekte Soundtrack für ein neues Pikmin-Spiel und spätestens nach Hebdens eintretendem Summen endgültig Tor in eine andere Welt. Auch auf "Parallel 7" formt eine sich wiederholende, hypnotisierende Percussion-Figur den Kern des zurückgelehnten Tracks. Selbst die kurzen Fingerübungen "Parallel 3" und "Parallel 5" stecken voller Ideen.
Zum Schluss flacht das Werk etwas ab: "Parallel 8" ist ein guter House-Track, aber mehr auch nicht und passt mit seiner Fiepsigkeit nicht so recht zum Rest. "Parallel 9" übertreibt das Vogelgezwitscher etwas und wird erst ab Minute fünf interessant. Free Jazz auf dem Piano ist so eine Sache und auch "Parallel 10"s Klavier lässt selbst bei mir altem Klimper-affinem Mann das Blut nicht schneller pumpen, wenngleich der Tet das handwerklich offensichtlich virtuos anpackt.
Teile von "Parallel" veröffentlichte Kiering schon unter seinem Moniker Windings, aber das sei ihm verziehen, durch Neuanordnung erhält Musik wie die seine ja immer neuen Kontext. Mit "Parallel" entfernt der Engländer sich keineswegs vom Dancefloor, er macht ihn nur anspruchsvoller, fordert ihn heraus. Und das Cover ist auch noch wunderschön.
"871" ist 20 Songs stark und erinnert an die frühen Alben von CaribouCaribou, als der noch Manitoba hieß. Die Spur führt also Richtung IDM und Folktronica. Nur, dass dann jemand die Masterdateien auf CD gebrannt hat, sie an einer Raufasertapete entlangrubbelte und wieder aufspielte, denn Feedback und Noise haben hier stets einen Platz. Die ganze Art passt zum angegebenen Aufnahmedatum, da war der Herr Tet noch aktiver in der nach wie vor bestehenden Artsy Rockband Fridge.
"871" fällt experimenteller als "Parallel" aus, ohne Melodie macht es Hebden aber nicht, selbst bei einem dekonstruierten Feedbackgewitter wie "0000 871 0004". Die Mittel unterscheiden sich und variieren stark, angefangen bei Akustik-Gitarren auf "0000 871 0003" und E-Gitarren auf "0000 871 0017" und dem besonders tollen "0000 871 0020". Beim spinnerten "0000 871 0012" und dem Albumhighlight "0000 871 0007" gibt der E-Bass den Ton an, und "0000 871 0013" ist dann reine Elektronik. Absolut immer ist Platz für Perkussion, wenn auch nur selten als Hauptdarsteller wie das wunderschöne Glockenspiel auf "0000 871 0006".
Unabhängig von der Instrumentierung kommt letztlich eine bedrohliche (siehe besonders "0000 871 0002"), unterschwellig aggressive Stimmung heraus. Auch wenn nur einige Songs wie "0000 871 016" komplett ausgearbeitete Längen erreichen, hinterlässt "871" nur selten den Eindruck einer skizzenhaften Fingerübung. Während "Parallel" seine Kohärenz auszeichnet, wuchert "871" mit seiner fast schon grotesken stilistischen Vielfalt, ohne zu zerfasern, zusammengehalten von der für einen zum Aufnahmezeitpunkt so jungen Künstler bemerkenswert stilsicheren Düsternis. Deren Release zum damaligen Zeitpunkt, etliche Jahre vor Burial, hätte Four Tet ganz vorne neben Aphex Twin katapultiert. Damit nahm er den Sound von dekonstruierten Düsterbolden wie SHXCXCHCXSH vorweg. Ein tolles Gesamtkunstwerk.
2 Kommentare mit 3 Antworten
Ist so wie mit Flying Lotus (weil hier genannt) etc. Hat bestimmt seine Momente, wird für mich aber nur dann richtig rund, wenn es Richtung TripHop mit Elektro Einfluss tendiert. Und da gibt es in beiden Fällen deutlich bessere.
hat mir demletzt immer besser gefallen, muss mal die diskographie checken
https://www.korrekturen.de/beliebte_fehler…
Wohl kaum jemanden der demletzt benutzt wird nicht klar sein, dass es sich dabei nicht um ein standardsprachliches Wort handelt. Insbesondere nicht demjenigen, der gerne komplizierte Wörter benutzt, um sich damit als Intellektueller zu gerieren.
https://youtu.be/uglV4X3hhwo?t=8