laut.de-Kritik
Der wohl feinsinnigste Soundtrack zur ersten großen Liebe.
Review von Toni HennigAm 18. November 1962 sahen Millionen Zuschauer die damals 18-jährige Francoise Hardy zum ersten Mal im französischen Fernsehen: als Pausenfüller. Die Politiker des Landes wollten die Ergebnisse des Referendums zur Unabhängigkeit Algeriens bekanntgeben. Danach sollte Präsident Charles de Gaulle eine Rede halten. Doch der ließ lange auf sich warten. So nutzte die in Paris geborene Sängerin die Gunst der Stunde und verzauberte mit "Tous Les Garçons Et Les Filles" eine ganze Nation. Mit dem gleichnamigen Debüt, das noch im selben Monat in ihrer Heimat erschien, erlangte sie auch außerhalb ihrer Landesgrenzen Bekanntheit.
Dem sich anschließenden Erfolgsdruck hätten wahrscheinlich viele Sängerinnen kaum standgehalten. Nicht aber die hochgewachsene Französin, die gemeinsam mit ihrer Schwester alles andere als in wohlbehüteten Verhältnissen aufwuchs. Der Vater ließ die Familie schon früh im Stich, so dass die Mutter, eine Bilanzbuchhalterin, alleine ihre Töchter durchbringen musste. Francoise verbrachte ihre Kindheit teilweise bei ihrer dominanten Großmutter, die ihr das Leben zur Hölle machte. Diese Erfahrungen spiegeln sich im zurückhaltenden, schüchternen Gemüt Hardys wieder.
Zu ihrem 17. Lebensjahr dürfte sie als Familiengeschenk zwischen einem Radio und einer Gitarre wählen. Sie entschied sich für letzteres, da sie laut ihrer eigenen Aussage "schnell verstand, dass man darauf mit nur drei Akkorden schöne Melodien kreieren konnte." Eines der ersten Lieder, das an diesem Instrument entstand, war "Tous Les Garçons Et Les Filles". Die Eltern drängten Francoise trotzdem dazu, sich an der Sorbonne zu immatrikulieren. Dort studierte sie Germanistik und erhielt Gesangsstunden.
Sie blieb dennoch hartnäckig und spielte "Tous Les Garçons Et Les Filles" in "drei Stunden mit den vier lausigsten Musikern von Paris ein", behauptete sie mal in einem Gespräch. Danach komponierte sie in ihrem Zimmer noch weitere Tracks an der Gitarre. Sie nahm an mehreren Talentwettbewerben teil, was sie eine Menge Überwindung kostete, und bewarb sich auf Annoncen diverser Plattenfirmen, die junge Talente suchten. Tatsächlich versprach sich Vogue von der melancholisch dreinblickenden Französin als weiblicher Verschnitt von Teenie-Schwarm Johnny Hallyday große Erfolgsaussichten. Die Vertragsunterzeichnung bei dem Label erfolgte 1961.
Allein "Tous Les Garçons Et Les Filles" setzte so viele Einheiten ab wie Edith Piaf mit all ihren Platten in zwanzig Jahren Karriere. Der sanft dahingehauchte Song über ein Mädchen, das einsam durch die Straßen schlendert und von der ganz großen Liebe träumt, prägte das kollektive Bewusstsein einer ganzen Generation. Allerdings brachte die Plattenfirma die Nummer zunächst als B-Seite unter, da sie ihr kaum Hitpotential zutraute. Als A-Seite wählte sie das Stück "J'Suis D'Accord", das mit seinen tänzerischen Twist-Einschüben nicht weniger hinreißend klingt.
Beide Songs findet man als Hörer ebenfalls auf dem Erstling, der insgesamt drei Singles, bestehend aus jeweils vier kurzen Einzeltracks, auf Albumlänge zusammenführt. Das spürbar von Buddy Holly, Elvis Presley und The Everly Brothers beeinflusste Werk vermengt Folk, Blues, Jazz, Rock und Chanson zu einer eigenständigen Mixtur.
Es besteht zum großen Teil aus treibenden Rockabilly-Einflüssen, die sich mit dezenten Percussions und der Steelgitarre von Hardy kreuzen. Gleichzeitig verleiht Roger Samyn mit seinen lebhaften Orchesterarrangements der Platte eine gehörige Portion Verve. Genau genommen hätte sich jede Nummer auf der Scheibe als A-Seite geeignet.
Daher avancierte Francoise schnell zum Sprachrohr der aufkommenden Yé-Yé-Bewegung, der französischen, spanischen und portugiesischen Antwort auf die britische Beat-Musik. Ihre Coverversion von Bobby Lee Trammels Rockabilly-Klassiker "Oh Oh Chéri" entspricht mehr der beiläufigen Lebensweise des laissez-faire als der wilden Aufbruchsstimmung, die vom Urheber wenige Jahre zuvor ausgegangen war.
Auch die restlichen Nummern bilden einen Kontrast zum Bild des männlichen Draufgängers, das sich ab den 50er-Jahren allmählich in der Musikbranche etablierte. Die einprägsamen Melodien erinnern ohnehin in einigen Momenten an amerikanische Girl-Groups wie The Marvelettes.
Ungeachtet dessen haftet fast allen Songs, die sich häufig um das Erwachsenwerden drehen, ein nachdenklicher und empfindsamer Charakter an. Zudem verzichtet die Französin auf lyrische Banalitäten durchgehend. Und sie benötigt nicht mehr als ein paar Akkorde und ihre Stimme, um Emotionalität zu erzeugen, wie etwa "Il Est Parti Un Jour" demonstriert, das mit jeder Note an Eindringlichkeit gewinnt.
Höhepunkt der Platte bildet zum Schluss die sehnsüchtige Ballade "C'est À L'Amour Auquel Je Pense", die untermauert, dass ihre Stücke unter der melancholischen Oberfläche immer noch eine ganze Menge Hoffnung und Zuversicht beherbergen. Im ZEITmagazin sagte sie einmal: "Die wunderbarsten Melodien sind stets die traurigen". Demgegenüber fallen die Tracks auf der Scheibe nie zu schwermütig und zu resignierend aus.
Der größte Hit von Francoise Hardy, "Tous Les Garçons Et Les Filles", kam 1963 als "Peter Und Lou" in einer deutschsprachigen Einspielung heraus. Ihre feinfühlige Poesie kommt in dieser Version noch einmal besonders zum Vorschein, wenn sie singt: "Nichts ist so schön, wie wenn zwei sich versteh'n, wenn ganz heimlich die Liebe erwacht." Nahezu zeitgleich veröffentlichte Vogue das französischsprachige Original doch noch als A-Seite.
Im selben Jahr ging die Sängerin für Monaco beim Grand Prix d'Eurovision de la Chanson mit "L'Amour S'En Va" ins Rennen und landete auf Platz 5. Im Oktober kam ihr zweites Album "Le Premier Bonheur Du Jour" in die Läden, das genauso wie ihr Debüt einzelne Singleveröffentlichungen umfasste. Um nicht als One-Hit-Wonder in die Musikgeschichte einzugehen, musste sie sich jedenfalls neu erfinden.
1964 nahm sie mit "Mon Amie La Rose" eine Platte in London auf. Sie schrieb für das Werk nahezu sämtliche Songs im Alleingang. Von Mitmusikern wie Gitarrist Jimmy Page von Led Zeppelin ließ sie sich gar nichts sagen. Sie erlangte schlussendlich die volle künstlerische Kontrolle über ihre Musik. In der Folgezeit stylte sie ihr langjähriger Liebhaber Jean-Marie Périer für die Öffentlichkeit zurecht. Sie trug flache Schuhe und kein Make-Up. Sie modelte für zahlreiche bekannte Modemacher wie Yves Saint Laurent. Bob Dylan und Mick Jagger hielten um ihre Hand an. Sie entschied sich 1967 für den verkopften Chansonnier Jacques Dutronc.
Sie verabschiedete sich nicht nur, weil ihrer Meinung nach ihre Looks "zu schlank und zu nerdig" ausfielen, 1968 für immer von der Bühne, sondern weil sie unheimliches Lampenfieber plagte. Heute lebt Hardy zurückgezogen in der Nähe der Champs-Élysées. Ihr Ehemann hat sein Domizil in Korsika.
Nach wie vor überzeugt die mittlerweile 74-Jährige regelmäßig mit guten Alben, die frei von äußeren Zwängen entstehen. Mit "Personne D'Autre" kehrte sie erst vor Kurzem nach besiegter Krebserkrankung mit einem einfühlsamen Werk zurück. Danach soll höchstwahrscheinlich mit der Musik Schluss sein.
Trotz allem legte Francoise Hardy mit "Tous Les Garçons Et Les Filles" den Grundstein für ihre lange Laufbahn als Sängerin und Musikerin. Das Titelstück coverten schließlich unzählige Bands, etwa Saint Etienne oder The Dresden Dolls. Als der wohl feinsinnigste Soundtrack zur ersten großen Liebe hat das Debüt der Französin, das unter anderem Cherry Red Records und Light In The Attic im Laufe der Zeit neu auflegten, sicherlich viele Menschen auf der ganzen Welt im positiven Sinne nachhaltig geprägt.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
3 Kommentare mit 12 Antworten
Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.
Na endlich! Die Grandiosität dieser Platte ist mir besonders durch "Moonrise Kingdom" nochmal in Erinnerung gerufen worden. Daher würde ich "Le Temps De L'Amour" ebenfalls hervorheben.
Den Film habe ich schon ein halbes Jahr bei mir rumliegen und noch nicht geschaut. Wäre mal an der Zeit.
Hardy, Gainsbourg, Brel... Musikalisch lief's bei den Franzosen in den 1960ern. Man muss aber auch ein bisschen franko- und retrophil sein, um sich das heute noch anzuhören.
Brel fehlt absolut noch als Meilenstein.
"Oh oui je t’aime... Moi non plus... oh mon amour" Gainsbourg hat auch noch keinen. Hat mit "Histoire de Melody Nelson" und "Jane Birkin/Serge Gainsbourg" zwei der wichtigsten französischen Platten abgeliefert.
Tatsächlich. Hatte ich angenommen, dass es zu "Histoire de Melody Nelson" schon einen Text gibt. Mit Gainsbourg bin ich aber bisher weniger vertraut als mit Hardy und Brel. Außerdem würde das gerade meine geplante Paris-Rom-New York-Trilogie zunichtemachen, aber da lässt sich sicher ein Autor finden.
Könnte es aber auch übernehmen. Würde aber wahrscheinlich noch ein wenig brauchen.
Hüstel. https://www.laut.de/Jacques-Brel/Alben/Les…
Den Gainsbourg-Meilenstein hat sich Kollege Schuh bereits gesichert. Er verschiebt ihn dann aber immer wieder wegen anderer Themen wie z.B. Madness. Ich freue mich drauf und bin gespannt, wann der kommt.
Super. Wären zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
räusper...klar lief ubnd läuft es bei den franzosen.aber grand jacques war belgier. immerhin gibt es etliche brel-klassiker auch als flämisch/niederländisch gesungene fassunegen.
und natürlich haben wir einen meilenstein.
https://www.laut.de/Jacques-Brel/Alben/Les…
was den serge angeht: schon klar, dass man bzw michel an der "melody" nocht vorbeikommt. obwohl es da wirklich etliche hingucker gibt. die sachen mit der bardot könnte man ebenfalls nehmen. und die provokante "nazi rock"-platte "rock around the bunker" würde auch einen tollen text nach sich ziehen. aber klar, die birkin-sachen sind schon ein highlight unter highlights.
gäbe ja auch ein paar kandidatinnen wie barbara oder die greco, die sich aufdrängen.
ps: grandioser text, toni. man bekommt lust, den ganzen katalog aufzuarbeiten.
Brel ist 1953 nach Paris gezogen, um seine Karriere zu starten. Er ist schon eindeutig der französischen Musik zuzuordnen.
klar, das habe ich ja auch nicht moniert. dennoch gehört er genau so wenig zu "den franzosen" wie falco zu "den deutschen", obwohl letzterter auch teil der ndw war. das muss ich einem der inteligentesten und musikalisch gebildetsten user wie dir hierd doch nicht erklären. der jacques war flämisch mit leib und seele. auch wenn viele franzosen ihn gern musikhistorisch als eigengewächs verbuchen.
und wo wir gerade bei frankreich sind:
ein noir desir-meilenstein wäre auch angebracht, finde ich. die waren hochgradig wichtig und einflussreich. wäre auch ne schöne übung in sachen trennung des werks vom künstler.