laut.de-Kritik
Zwischen Collins' Einstieg und Gabriels Rausschmiss.
Review von Joachim GaugerPeter Gabriel reißt die Augen auf und schneidet furchteinflößende Grimassen, als habe er eine Überdosis LSD abbekommen. Dank weißer Totenkopf-Schminke leuchtet sein früh gealtertes Gesicht unter einer überdimensionaler Pickelhaube hervor, immerhin verbirgt die grelle Kostümierung wenigstens den ausgemergelten und grotesk zuckenden Körper.
Wir schreiben das Jahr 1974, Genesis sind zu Gast im französischen Fernsehen. Alles geht jetzt ganz schnell. In TV-Aufnahmen vom Vorjahr agieren Genesis noch wie eine junge, vitale Band, der die Welt zu Füßen liegt.
Im Folgejahr wird man sich zerstritten und getrennt haben. Dazwischen liegt der ganz persönliche Horrortrip des Herrn Gabriel.
Die TV-Mitschnitte aus dem Bonus-Teil von "1970 - 1975" machen das Zerwürfnis sichtbar, sie zeigen vier ernsthafte Musiker und einen Clown.
Sie verdeutlichen, wie Gabriel mit seiner Ausdruckskraft und seinen exaltierten Kostümen das Bühnengeschehen immer mehr dominiert und Genesis-Gigs zu einer Art psychedelischem Musiktheater macht, während Phil Collins Miene immer säuerlicher wird.
In den zugehörigen Interviews erzählen die Bandmitglieder die gemeinsame Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln, die um so mehr differieren, um so näher die Trennung von Peter Gabriel rückt. Und es ist beinahe rührend zu sehen, wie nahe diese Trennung vor über 30 Jahren den Beteiligten immer noch geht - keiner hat sie kommen sehen, keiner hat sie gewollt.
Ganz offenbar fühlten sich die anderen Bandmitglieder von Gabriel an den Rand gedrängt. Doch Gabriel selber hatte zu der Zeit ganz andere, existenzielle Sorgen, bei ihm ging nach schweren Komplikationen bei der Geburt seines ersten Kindes das Private vor.
Derartige Einblicke und allerlei Anekdoten zur Bandgeschichte machen die dieser Tage erscheinende Box "1970 - 1975" zu einem wahren Schatzkästlein für Genesis-Anhänger der ersten Stunde.
Immerhin gelten die Jahre mit Peter Gabriel, Phil Collins, Steve Hackett, Tony Banks und Michael Rutherford vielen als der Höhepunkt der Bandgeschichte, zumal jeder der hier Genannten später auch solo erfolgreich war.
Selbst im Büro zieht der schick gestaltete Karton mit insgesamt 13 Silberlingen Neider und Neugierige an, selten standen so viele Redakteure um meinen Tisch herum. Dabei ist kaum ein Genre in der Redaktion so schlecht beleumundet wie 'Progressive Rock'.
Beim erneuten Hören der Klassiker von "Trespass" bis "Lamb Lies Down On Broadway" stellt man allerdings bald fest, dass die Zuordnung hier noch weniger aussagt als bei anderen Bands dieses schillernden Genres.
Viele Elemente des Progressive Rock wie etwa die üppige Instrumentierung, die Ausstellung von Virtuosität in endlosen Soli oder die exzessive Verwendung von Synthie-Klängen kann man sich bei Genesis nämlich jederzeit wegdenken, ohne dass der jeweilige Song Schaden nähme.
Andere Bestandteile des Genesis-Sounds wiederum sind eher zeit- als genretypisch und ohne das 70 Jahre-Pathos der 'Bewusstseinserweiterung' kaum zu verstehen.
Die lustigen Tierfabeln in Peter Gabriels Lyrics etwa sind so vielschichtig und vieldeutig wie die Welt im Spiegel der Halluzinogene. Endlose Intros und 20-Minuten-Songs repräsentieren ein extrem dehnbares Zeitgefühl, die Aufhebung von Strophe und Refrain entspricht der Grenzauflösung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Innen- und Außenwelt im Rausch.
In den bislang kaum bekannten "Extra Tracks", größtenteils aus den Jahren 69/70, sind viele Elemente der späteren Entwicklung bereits zu erkennen, manche Passagen hat die Band später beinahe unverändert wieder verwendet.
Von besonderem Wert für Genesis-Archäologen sind sie auch deshalb, weil man in ihnen das variable Schlagzeugspiel Phil Collins noch schmerzhaft vermisst.
Phil Collins hatte sich erst nach "Trespass" auf eine Zeitungsanzeige hin bei Genesis beworben und war nach einem Vorspielen in Peter Gabriels Elternhaus engagiert worden. Seit dem Rausschmiss von Gabriel gilt er als der Geschäftsmann, der die Band Richtung Mainstream und Charts drängte.
Und tatsächlich macht er auf den alten Band-Fotos ein Gesicht, als würde er Marihuana allenfalls rauchen, aber nicht inhalieren. Vielleicht aber wurde sein Beitrag zu den hier vorliegenden Alben bislang unterschätzt.
Sein druckvolles Drumming und seine Fähigkeit, das Tempo nach Belieben zu bremsen oder zu forcieren, machte den ausgeprägt dramaturgischen Aufbau der meisten Genesis-Tracks erst möglich.
Teilweise Rehabilitation erfährt Collins auch durch die verbesserte Klangqualität dank neuer Abmischung und SACD bzw. DVD-Audio-Technik, die u.a. seine Zweitstimme endlich deutlich hörbar macht.
So reiche Inhalte die vorliegende Box aufweist, so unverständlich erscheint die teils lieblose Ausführung im Detail. "The Lamb Lies Down On Broadway" und "Extra Tracks" sind wie kleine Bücher in Hardcover gebunden und auch haptisch ein Vergnügen. Um so billiger fühlt sich im Vergleich die Plastik-Hülle der vier frühen Alben an.
Im Booklet von "Extra Tracks" sind, obwohl vorhanden, überhaut keine Extras gelistet. Nähere Informationen zu den Extras sucht man sowieso vergebens, auch vermisst man bei allen Interviews und Extras deutsche Untertitel. Selbst wer des Englischen mächtig ist, kapituliert wohl spätestens vor dem französisch übersprochenen Interview in der TV-Sendung Bataclan von 1973.
Also mal sehen, an welchen Kollegen ich die Box nun verschenke. Meine Genesis-Zeit ist sowieso lange vorbei. Und wenn ich sie doch mal wieder aufleben lassen will, dann muss es knistern, dann geb ich mir die Nadel.
23 Kommentare
Ich verstehe nicht ganz (nachdem ich Besprechung gelesen habe), warum man es dann nicht bleiben lässt und die Box direkt weiterverschenkt, wenn man von vorne herein nicht zu schätzen weiß, was man da auf dem Tisch stehen hat.
Es wird ja schon zugegeben, dass von Prog bei euch keiner eine Ahnung hat (bzw. hn keiner mag). Was ja auch kein Problem ist, gibt ja genug andere Musik.
In EINEM kleinen Absatz wird über die herausragende Leistung gesprochen (oder eher kurz erwähnt), bis zu 40 Jahrer alte Musik in einer unfassbaren Qualität neu abzumischen. Für jeden, der die Original-Versionen der Alben kennt, ist es geradezu eine Offenbahrung, was nun aus den Stücken herauszuhören ist. Unglaublich!
Stattdessen ist es ein Riesenproblem, dass 4 der Alben nur in Jewel-Cases stecken. JA UND? Das tun 90% aller anderen CDs auch. Wir reden hier über Musik! Natürlich ist der Einwand korrekt und auch berechtigt, aber es geht um die Verhältnismäßigkeit.
Ja, ich weiß, alles in subjektiv und immer eine Meinung des Redakteurs. Aber wenn mich etwas überhaupt nicht interessiert, warum muss ich dann meine Meinung unbedingt kundtun?
Tim
"Dabei ist kaum ein Genre in der Redaktion so schlecht beleumundet wie 'Progressive Rock'."
was? echt schwach für eine MUSIKredaktion, aber wirklich
mensch joachim, deine längste rezi bis jetzt oder?
diese gegenüber- und zusammenstellung aus gegenwart und vergangenheit klingt ja hochinteressant. ist womöglich die beste genesis investition seit 1980.
Gabriel wurde nicht "rausgeschmissen".
Er ging aus eigenem Antrieb.
Und die Rezension ist echt das Letzte!
@dein_boeser_Anwalt (« @guelei1 (« genesis gibt es NUR MIT gabriel!!!
alles danach ist frevel am eigenen namen - eine verhöhnung und verlächerlichung an den meister... »):
das halte ich für ein beliebtes vorurteil.
selbstmanipulation aus gründen verständlicher collins-solo-überzuckerung!
aber wenn du dir mal die trick of the tail zu gemüte fühst, siehst du das mit anderen augen.
ein absolut grossartiges werk nach gabriels abgang. »):
Trotzdem stimmts im Großen und Ganzen. Allerdings wird der Niedergang des Niveaus bei Genesis immer zu oft am Weggang Gabriels festgemacht. Das Steve Hackett Ausstieg da genau so maßgeblich war, wird geflissentlich übersehen. Rutherford war, ist, und wird es immer sein -ein Gitarrenschädling.
@dein_boeser_Anwalt (« ... aber wenn du dir mal die trick of the tail zu gemüte fühst, siehst du das mit anderen augen.
ein absolut grossartiges werk nach gabriels abgang. »):
wir kennen doch alle deine fan-boy haltung zu diesem album, ulf es ist sicherlich nicht schlecht, kann aber dennoch nicht mit den meisterwerken aus der zeit mit gabriel mithalten