laut.de-Kritik

Gesungen verliert das Trauma etwas von seinem stummen Schrecken.

Review von

Ein Janet Jackson-Meilenstein? Welcher darf es denn sein? Ziemlich genau vier Mal hat Janet Jackson R'n'B im Speziellen und Pop im ganz Allgemeinen maßgeblich beeinflusst. "Control" ist wichtig, weil sie davor ihr Ekel von gewalttätigem Vater als ihren Manager gefeuert hatte und schicksalsträchtig mit den Prince-Weggefährten Jimmy Jam und Terry Lewis zusammenfand, um den Sound aus hartem Funk, metallischen Drummachine-Beats und zündenden Pop-Hooks zu erfinden, der als "New Jack Swing" in die Musikgeschichtsbücher einging und bis heute als akustisches Synonym in unserem Ohr ist, wenn wir an die Achtziger denken. Da war sie 20, hatte ihre erste gescheiterte Ehe hinter sich und die klare feministische Kante bereits ausformuliert: "What Have You Done For Me Lately", die Frage, die das "Nicht Viel" bereits impliziert, stellte sie als erster weiblicher Popstar in dieser Deutlichkeit.

"Rhythm Nation 1814" ist wichtig, weil sie damit ihren Horizont und damit den des Mainstream-Pops der Zeit erweiterte, indem sie das Politische im Privaten in einen größeren Kontext stellte. Das halbstündige Video-Opus zum Titeltrack, ihre Choreographien und Kostüme, die sozialen Thematiken nahmen die Art und Weise vorweg, wie eine Janelle Monae heute Politik im Pop macht und außerdem, wie sie dazu auf der Bühne tanzt und was sie dabei trägt. Gleichwohl vorausgedacht hat Janet Jackson damit den Moment, wenn ein "Get in formation!" durch die WG-Party ballert und der aufdringliche Macker in Haifischnikes ganz zufällig eine Bierflasche an den Kopf bekommt.

Mit 24 hatte sie den damals bestbezahlten Vertrag in der Geschichte der Musikindustrie in der Tasche (Virgin legte Fünfzig Millionen Dollar auf den Tisch) und erwischte Amerika ziemlich auf dem falschen Fuß, als sie auf "Janet" mit dem Zaunpfahl durchblicken ließ, dass sie nicht nur eine sozial engagierte Philantropin, Popikone und Ausnahmeperformerin, sondern auch eine sexuell aktive Frau in ihren Zwanzigern war. Der Rolling Stone gab dazu die Losung aus: "Wenn Janet Jackson ihr sexuelles Erwachen verkündet (...), ist das ein kultureller Moment.", und der war es dann auch. "Janet" beeinflusste nicht nur entscheidend, wie das klingt, was wir als "Neunziger-R'n'B" im Kopf haben, sondern lieferte auch die Blaupause, wie die Industrie in den nächsten 20 Jahren ihre weiblichen Stars aufbaute. Das ist Rihanna als "Good Girl Gone Bad" und Miley Cyrus, wie sie nackt auf einer Abrissbirne reitet. Wo die vom Blick männlicher Produzenten dominierte Übersexualisierung vor allem in den Nullern aber ihre patriarchalen Blüten trieb, war es auf "Janet" aber schlicht ein weiterer Moment, in dem Miss Jackson tat, wozu sie gerade am meisten Lust hatte.

Innerhalb von fünf Jahren stellt sie ihren eigenen Rekord ein und unterschreibt 1996 abermals den bis dato teuersten Deal der Musikgeschichte, wieder mit Virgin, diesmal für Achtzig Millionen. Zu diesem Zeitpunkt spielen vielleicht noch zwei andere Menschen auf der Welt auf dem selben Superstarlevel wie sie, der eine heißt Madonna und der andere ist ihr Bruder. Janet Jackson hat alles, ist über alle Maßen reich, berühmt, erfolgreich und schwer psychisch krank.

Die Geschichte, wie sie sich an diesem Punkt ihres Lebens weder in ihrer Magersucht zu Tode hungert, noch von ihren Depressionen in die totale Selbstzerstörung treiben lässt, erzählt "The Velvet Rope". Janet Jackson kotzt sich aus, um das Hineinfressen und wieder Auskotzen ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Wieder einmal erkämpft sie die Kontrolle über sich selbst zurück und dokumentiert das ganz direkt in musikalischer Form.

Doch das Album thematisch auf eine Art "The Downward Spiral" in R'n'B zu reduzieren, wird ihm nicht gerecht: Nicht so ganz wohl war Virgin wie den Radiostationen bei dem Gedanken, dass etwa "Together Again" keine Liebesschnulze ist, sondern ein Abschiedslied an die Freunde, die Jackson an Aids verloren hat. Ganz blümerant wurde Amerika erst Recht bei dem, was sie aus Rod Stewarts "Tonight's The Night" macht, und als es zeitgenössischen Rezensenten dämmerte, um was für Fesseln es auf "Rope Burn" geht, wussten sie sich in ihrer putzigen amerikanischen Prüderie teilweise nicht anders zu helfen, als das als "suggesting" zu betiteln.

Fragt man nach dem Einfluss, den "The Velvet Rope" auf die Karrierewege nachfolgender weiblicher Popstars hatte, dann ist es zum Beispiel die Vorlage für den Moment, den Rihanna auf "Rated R" und Miley Cyrus stoned auf Salvia im Studio der Flaming Lips hatte. Konkret musikalisch lässt sich sagen, dass es das, was man heute "Alternative R'n'B" nennt, ohne dieses Album so nicht geben würde. Die Isolation und introspektive Entrücktheit, die etwa bei FKA Twigs oder Frank Ocean zentraler Teil der Musik ist, war im Genre-Mainstream auf "The Velvet Rope" zuerst in dieser Form da, und dass das Cover von "Blonde" so aussieht, wie es aussieht, wird auch einen tieferen Grund haben, als dass Frank Ocean etwas hingefallen ist und er sich darüber ärgert.

"Bitter you'll be if you don't change your ways / when you hate you you hate everyone that day / unleash this scared child that you've grown into / you cannot run for you can't hide from you", bringt die zweite Strophe von "You" den inneren Imperativ auf den Punkt, der für Janet Jackson Antrieb der Aufnahmen war. Das Trauma hört nicht auf zu existieren, wenn man es singt, aber es büßt etwas von seinem stummen Schrecken ein. In gewisser Weise vollendet Jackson mit diesem Album die Absage ans eigene Elternhaus, die sie auf "Control" angestimmt hat, auch wenn sie es in den Texten des Albums so nicht ausspricht. Doch dass das Gefühl, nicht genug, nichts wert zu sein, dort wurzelt, in ihrer Kindheit und ihren Teenagerjahren unter der Knute ihres Vaters und einer Mutter, um deren Liebe sie mit acht Geschwistern konkurrieren musste, daran ließ sie in Interviews keinen großen Zweifel.

Zum sich nackt machen, seelisch, metaphorisch, wörtlich, gehört auf "The Velvet Rope" auch das Bekenntnis, vor wem man das gern tun würde. "Tonight's The Night" dreht den Text des Originals kurzerhand auf lesbisch. Doch schon vorher auf dem Album musste Radio-Amerika einmal kurz ganz, ganz stark sein, um das lakonisch queere "Free Xone" zu verkraften: "Boy meets boy / boy get's cute boy back", "one rule / no rules / one love / free zone". Was bei den Taylor Swifts der heutigen Tage immer etwas wie eine Pflichtübung wirkt, zu der das Management geraten hat, war damals ein kommerzielles und berufliches Risiko.

Was Risiken angeht, ist dieser Track auch musikalisch ein gutes Beispiel. Mit den treuen Kameraden Jimmy Jam und Terry Lewis sowie ihrem Ex in spé Renee Elizondo an ihrer Seite machte Miss Jackson wieder einmal im Wesentlichen das, wozu sie gerade Lust hatte. Auf "Free Xone" kombinierten sie einen verhalten-jazzigen Einstieg mit einem plötzlich hereinbrechenden Funkpart und einem anschließenden Electrobreak, den man heute noch so in neumodischen Footwork-Sets hören kann. In der ersten Single "Got 'Til It's Gone" führt Jackson auf einem zeitlos geschmeidigen Trip Hop-Beat Joni Mitchell und einen glänzend aufgelegten Q-Tip zusammen. "Empty" klingt im Beat wie Aphex Twin in seinen besinnlicheren Momenten und sieht im Text die Isolation moderner Online-Beziehungen zwanzig Jahre später so treffend voraus, dass es fast schon gruselig ist. "What About" täuscht zunächst mit säuselnder Flamenco-Gitarre an, bevor einem die Hook die unangenehmen Fragen ins Gesicht klatscht: "What about the times you lied to me / what about the times you said no one would want me / what about all the shit you've done to me".

"The Velvet Rope" ist bis obenhin vollgestopft mit Ideen, Themen, Gefühlen. Dabei vergisst die Produktion jedoch nie, dass es nicht zuletzt ein Popalbum ist und sein will. Die vielen Details und Finessen drängen sich im Sound nicht auf. Wer genau zuhört, findet aber um so mehr davon. Es ist zugänglich für alle, und dass das Album in all seiner thematischen Schwere nicht in einer wehleidigen Popstar-Kokspychose, sondern in einem "don't let nobody tell you you ain't strong enoug" endet, unterstreicht das noch einmal. "The Velvet Rope" ist, gespeist aus höchst destruktiven Gefühlen, ein zutiefst konstruktives, hoffnungsvolles Album.

Janet Jackson verarbeitet hier im Großformat Themen wie Queerness und psychische Krankheit, lange bevor das zum guten Ton gehörte. Sie hat nicht nur viel von der Musik unserer Zeit inspiriert, sie hat eben jenen guten Ton als eine der Ersten auf der großen Bühne angestimmt. Das alles verpackt in, gerade an heutigen Popstandards gemessen, aberwitzige musikalische Vielfalt macht "The Velvet Rope" zu Janet Jacksons Album, das ihren Einfluss ziemlich zeitlos verdeutlicht. Nie wieder war sie so gut, so wichtig, so Janet Jackson wie hier.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Interlude - Twisted Elegance
  2. 2. Velvet Rope feat. Vanessa-Mae
  3. 3. You
  4. 4. Got 'Til It's Gone feat. Joni Mitchell & Q-Tip
  5. 5. Interlude: Speaker Phone
  6. 6. My Need
  7. 7. Interlude: Fasten Your Seatbelts
  8. 8. Go Deep
  9. 9. Free Xone
  10. 10. Interlude: Memory
  11. 11. Together Again
  12. 12. Interlude: Online
  13. 13. Empty
  14. 14. Interlude: Ful
  15. 15. What About
  16. 16. Every Time
  17. 17. Tonight's The Night
  18. 18. I Get Lonely
  19. 19. Rope Burn
  20. 20. Anything
  21. 21. Interlude: Sad
  22. 22. Special/ Can't Be Stopped

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