laut.de-Kritik
Der Belcanto-Entertainer des Roots Reggae.
Review von Philipp KauseJohn Holt gründete Reggae mit, als er bei den Paragons im Chor sang. Auf ihn gehen einige der größten Erfolge des Genres zurück, in erster Linie "The Tide Is High", später ein Nummer 1-Hit für Blondie und andere, sowie innerhalb der Reggae-Szene das oft großartig gecoverte "Man Next Door" und "Police In Helicopter", Marihuana-Hymne par excellence. Die letzteren beiden fehlen in der Compilation, um die's hier geht, was das Riesen-Repertoire verdeutlicht. Holt hat um die 50 LPs aufgenommen, teils mit Ausflügen in Disco-Funk. Trojan versammelt in der Reihe "Essential Artist Collection" 50 Songs, das heißt umgerechnet im Schnitt einen pro Platte.
Wie auch Kollege Toots, der in dieser Collection-Serie bereits den Auftakt machte, flirtete John sogar mit Country, wie das Kristofferson-Cover "Help Me Make It Through The Night" und der Country--Schnulz "Pledging My Love" (bekannt von Elvis) vorführen. Okay, diese Musik findet ans Jahr 2023 wenig Anschluss. Unter den Cover-Versionen sticht am meisten die Barry/Robin-Gibb-Großtat "Morning Of My Life" hervor, wobei Holt den Bee Gees-Gesangsstil sehr treffend nachahmt.
Auch Lobos Softrock "I'd Love You To Want Me" bekommt einen Offbeat verpasst, hält sich ansonsten wacker ans Original. Richtig gut gelingt das Billy Joel-Cover "Just The Way You Are" (1978). Die Nachspielungen bewegten sich bewusst nah an den Ursprungsfassungen und erschienen sofort nach ihnen, ermöglichten sie doch den jamaikanischen Musikfans den Zugriff auf aktuelle US-Hits.
Die Wabbel-Orgel mit keuchendem Saxophon und "la! la-la la-la"-Refrain in "I'll Be Lonely" (1977) wirkt ebenfalls aus der Zeit geplumpst. Auffällig sind die vielen Zwei- und Unter-Drei-Minüter hier, sie werden die Patina nicht los. Die Remasterings klingen brauchbar und tragen Johns Stimme und die seiner Background-Sängerinnen ganz nah, quasi von den Lippen direkt ins Ohr des Hörers, unmittelbar ins persönliche Wohlfühlzentrum.
Der Jamaikaner brilliert durch eine sonore, mittellagige, nasale Stimme mit bisweilen opernarienhafter Phrasierung - der Belcanto-Entertainer des Roots Reggae! Der Eifersuchts-Song "I Wanna Dance (May I Have This Dance)" (1973) mit perfekter Soul-Instrumentierung zeigt diese Kompetenz anhand kleiner Triller-Vibrati. Oder "Riding For A Fall", eine superschöne B-Seite von 1972, kennt wahrscheinlich keiner, ist aber f***ing great, produziert von Bunnie 'Striker' Lee. "You'll Never Find" (1977) ist ein weiterer solcher Striker Lee-Kunstgriff.
Johns Schwerpunkt lag auf Liebesliedern. Manche sind exzellent, wie der Softsoul-Schmuser "Love So Right" ("I thought you came forever / and you came to break my heart / now I'm hanging on a chance that you come back to me."). Das Stück hatte bisher nur eine kurze Karriere als Bonus Track von Re-Prints, war aber trotz seiner erhabenen Qualität zur aktiven Zeit des Künstlers nie erschienen. "Tell Me Why", mit dem Charme des Triangels und einer wundervollen Easy Listening-Barockpop-Melodie, bläst ein weiteres Mal ins Horn der Schmachtfetzen.
Für die Roots-Puristen reizvoll bis unverzichtbar dürfte das knackige "Keep It Up" (mit den Typhoon All Stars, 1972), in einer herausragend ausgewogenen Klangabmischung sein, und speziell für '80er-Fans "Wildfire", ein sehr rares, hammerstark produziertes Duett mit hypnotischer Bassline und perfektem Paargesang mit Dennis Brown, von 1985. Abgesehen von den damaligen Vinyl-Singles, existiert das Lied erst seit letztem Frühling auf CD und LP, auf der "Lovers Rock"-Compilation von Trojan ("Lovers Rock (The Soulful Sound Of Romantic Reggae)", 2022). Selten erschien auch "Try A Thing" mit den Roots Radics als fluffiger Background-Band, aus dem Jahr 1984. Sehr catchy! Auch die Riddim-Grundlage für das spätere "Man Next Door" namens "Strange Things" sowie das bassgetragene, melodiöse "Stick By Me" (1971) dürften Roots-Fans schmecken.
Das fanfarenhafte und fröhliche "Reggae From The Ghetto" kann man einen Über-Song nennen. Komisch, dass diesen Schatz aus dem Jahr 1973 noch niemand gehoben und noch niemand gecovert hat, ein Mega-Ohrwurm, der sofort mitreißt und sich über den Spaß an der Musik freut. Solche Nuggets sind es, die den Release interessant machen. Die Crux ist jetzt, dass fünf der hier aufgezählten Highlights ("Morning Of My Life", "Riding For A Fall", "Love So Right", "Keep It Up" und "Try A Thing") bei der Vinyl-Fassung ausgespart wurden. Auf der Doppel-CD muss man hingegen viele Titel ungeordnet in Kauf nehmen, die zwischen unterschiedlichen Stilen, Phasen, Stimmungen springen, beliebig angeordnet scheinen und oft wie C-Ware anmuten. Andererseits gibt's die CDs zum Nice Price, damit fährt man dann doch besser als sich auf dem Second Hand-Markt einzudecken, und unberührte Neuware mit John Holt-Scheiben wird man überdies nicht mehr finden.
Ein klares Bild von Holt, der in den '90ern mit Digital-Dancehall flirtete und noch tief im Rocksteady wurzelt, zeichnet dieser Ausschnitt hier zwar nicht, und ich würde ihn auch nicht als 'Best Of', sondern als Random-Querschnitt bezeichnen. Die Aufmachung ist auch nicht wirklich überragend, es gibt Text in Weiß auf rotem Untergrund und ein fragwürdiges Farb-Design, am meisten lacht die Doppel-Vinyl in transparentem Orange an. Die "Essential Artist Collection" ist derweil eine Reihe, die sich zahlreiche Artists im Laufe des Jahres vorknöpft - und dass der 2014 verstorbene Pionier ein essenzieller Sänger der Karibikinsel war und andere Stile mit Reggae vortrefflich verschmolz, macht sein Werk unerlässlich.
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