laut.de-Kritik

Ein Ehepaar trennt sich, Stile vereinen sich.

Review von

Lily Allen war eine ganze Zeit lang aus dem Rampenlicht verschwunden. Unterdessen ist sie 40 geworden. Um so mehr überrascht als Albumtitel die Formulierung "West End Girl". Das Image als Mädchen hatte sie letztes Mal noch, aber das ist sieben Jahre her. Ihre letzten Singles versprachen, dass sie sich in Afrobeats und Dancehall engagiere: Sie verpflichtete Popcaan als Gast, war Feature-Stimme bei Burna Boy. Im Londoner West End hat sie viele lokale Gelegenheiten, bei karibischen und westafrikanischen Stilfusionen anzubeißen.

Entsprechend legt sie einen entspannten Trip Hop-Backbeat auf "Fruityloop". "Beg For Me" scheint von Mabel, Raye und Rudimental gelernt zu haben und findet sich auf dem altehrwürdigen "Diwali Riddim" wieder, der beispielsweise Lumidee ihren Durchbruchs-Hit "Oooh Oooh Never Leave You" bescherte, Wayne Wonder seine Hymne "No Letting Go" oder Brick & Lace ihr "Love Is Wicked" und zuletzt Nicki Minaj "Red Ruby Da Sleeze". Der ursprüngliche Autor, Keyboarder und Percussionist war übrigens Lenky Marsden.

"Nonmonogamummy" verfügt über einen langen, Bhangra-gefärbten Raggamuffin-Abschnitt und verwendet Breakbeats sowie Drum'n'Bass-Design. "Ruminating" ist ein Drum'n'Bass-Titel mit interessanter Steigerungskurve und brutalem Auto-Tune-Effekt. Jamaika, immer in London präsent, setzt sich also auf einem Drittel des Albums durch.

"Relapse" besteht überwiegend aus Stimmverfremdung, passend, weil es Kontrollverlust vertont, und der Tune zitiert die Machart von Drum'n'Bass. Allerdings ist die Qualität des Beat-Programming extrem bassarm und mehr dem Trap-Lager zuzurechnen, bis der Beat ganz unterbricht und flächig-ambientiges Gewaber übernimmt.

Darüber hinaus durchziehen noch viele Stile die Platte: "West End Girl" bedient sich bei ätherischem Swift-Pop, Dance, Chamber-Folk, R'n'B, Urban, Hip Hop. Wer Gemischtwarenläden prinzipiell nicht ernst nimmt, ist bei der Scheibe folglich raus. Obwohl die Abwechslung schon auch ein Pluspunkt ist. Wer auf brillante Klangqualität und HiFi-Tiefe steht, wird sich gruseln. Und auch wenn der niedlich-naive Sopran bei der inbrünstigen Bitte, nicht im Schlaf zu reden, in "Sleepwalking" gut aufgeht, muss man einräumen: Wer mit Girlie-Gesäusel generell ein Problem hat, wird mit dem "West End Girl" auch nicht warm werden.

Es gibt also einige Hürden, um "West End Girl" zu genießen. Ich hätte mir eine andere Aufmachung gewünscht: Einige Stücke kombinieren Synth- und Drum-Programming mit einem 20-köpfigen Streichorchester, weder das eine noch das andere steht den Liedern gut, und die Kombination macht es nicht besser. Insgesamt herrscht viel zu viel Programming (von einem Dutzend Beatmakern) auf dem Album vor, man wähnt sich in die frühen 2000er zurück versetzt, als das state of the art war. Aber der Sound wirkt flach, plastikartig, als ob wir einer Bandprobe mit Tupperware als Percussion-Ersatz beiwohnten.

Trotz all dieser Einschränkungen haben die Lieder an sich schon Unterhaltungspotenzial. Wie man allerdings zu einer Fünf-Sterne-Wertung kommt, so geschehen beim Londoner Magazin The Independent oder beim US-Euphoria-Lifestyle-Blog, wirft große Fragezeichen auf. Der Rest der großen Meinungsmacher im UK gab sich unisono Vier-Sterne-Urteilen hin, und womöglich lag es an der kurzen Vorhör-Dauer: Lily kündigte ihr Album am Montagabend an, am Donnerstagmittag gingen manche dieser Reviews in den Druck. Dabei ist das Sensationellste an dem Album wohl, dass Lily mehrmals explizit Vulgärsprache verwendet was nicht zu erwarten war. Bei "Pussy Palace" entlarvt die Antiheldin des wütenden Liedes ihren Partner als sexsüchtig und entdeckt bei einer Nachforschung zum Beispiel Haare einer anderen Frau, aber auch Sexspielzeug. Lily Allen hatte sich von ihrem Partner David getrennt, mit dem sie verheiratet war und der sie betrogen hat. "Pussy Palace" ist der Turning Point-Song, in dem die Gelackmeierte ihren Noch-Gatten zuhause rauswirft und ins Hotel schickt.

Tatsächlich - was das Album nun leider gar nicht beleuchtet - hatten sich Lily und David in einer Dating-App einst kennen gelernt. Diese heißt Raya und öffnet sich als Zielgruppe(n) nur Apple-Usern und unter denen dann nur Promis. Für ein Abo muss man eine Bewerbung einreichen. David erhielt die Zulassung, denn er ist Schauspieler. Möglicherweise liegt der Fehler also schon in der Kennenlern-Phase begründet: Als wären Personen des öffentlichen Lebens automatisch wertvollere, bessere oder passendere Partner:innen - wie kann man auf so eine bescheuerte Idee kommen und dabei an wahre Liebe glauben?

Aber nun gut, immerhin inspirierte das bittere Ende paradoxerweise zu vielen neuen Songs, nämlich offiziell um die 50, von denen uns hier nur eine Auswahl von 14 zuteil wird, während das Kennenlernen, Sich-Verlieben und der womöglich glückliche Anfang der Beziehung kreativ wenig hergaben. Auch in den Jahren dazwischen sei Lily im Studio gewesen, habe die Musik aber wieder verworfen, wie sie etwa im NME erläuterte.

Was den NME und viele andere in Londons Musikpresse so vom Hocker reißt: Allen hat ein Konzeptalbum gemacht. Beispiel: Der fremdgehende Partner trifft sich im Song "Tennis" mit einer "Madeline" zum Tennisspielen. Mit der fordernden und von einem lieblichen Chor konterkartierten Frage "Who is Madeline, actually?" endet "Tennis". Der nächste Track heißt dann "Madeline" und behandelt die Antwort. Eine solche Verkettung von Episoden und Gesichtspunkten hat natürlich ihren Reiz. Die Umsetzung der Konzeptidee auf so vielen Genres zu reiten, hat durchaus ein gewisses Etwas. Trotzdem zerbröckeln die meisten Tracks in sich wiederum in bravouröse und recht mittelmäßige Song-Abschnitte.

"Madeline" wirbelt die ganzen Enthüllungsfragen durcheinander: Gab es nur Geschlechtsverkehr oder auch Gefühle beim Fremdgehen? War Madeline nur im Hotelzimmer zugange oder auch im ehelichen Haus? Seit wann ging die Affäre? Hatte man keine klaren Regeln in der Beziehung? War sie gar eine offene? Die Pointe: Madeline bietet an, der Betrogenen mehr Details zu erzählen, wann immer sie wolle. Eine Sprachnachricht bekundet, Madeline habe nichts von der Heimlichkeit und Unehrlichkeit gewusst. Dieses temporeiche und emotionsgeladene Stück mit Akustikgitarre und lebhaftem Vortrag bleibt als einer der stärksten des Albums haften. Nachdem die Sache mit der Gespielin geklärt wäre, zieht es der Hintergangenen den Boden unter den Füßen weg. Von diesem Gefühl handelt "Relapse" (zu Deutsch: "Rückschlag").

Die Lyrics könnten das Drehbuch eines smarten Fernsehfilms sein und laufen in einer so überzeugenden Klarheit durch, dass man Lily immerhin attestieren muss: Sie kann ihre Emotionen gut in Form fassen. Für Native Speakers mag das Album dadurch ungleich spannender sein, als wenn man Englisch als Fremdsprache hört und das Ohr mehr an der Musik hat.

In der Musik blitzen schon auch etliche Höhepunkte auf, etwa das rhythmische Jo-Jo am Ende von "Dallas Major", die kolossal tolle Melodie von "4chan Stan" oder die hörspielartige Quirligkeit von "Nonmonogamummy". Fairerweise muss man aber auch erwähnen, dass manche Nummern in Banalität versumpfen, die bei einer weniger bekannten Künstlerin und ohne ein solch plötzliches Comeback niemand ernst nähme. "Let You W/In" wurde im allgemeinen Mainstream dessen gefischt, wie 'man' heutzutage Pop mit fragilem Folk-Touch und der Andeutung von Hip Hop-Instrumentals produziert. So etwas gibt es zigtausendfach in den Streaming-Diensten, von A wie Gracie Abrams bis Z wie Zaz, die ja auch auf zu viele Geigen setzt.

Auf eine stringente A-Seite folgt eine heterogene B-Seite, die nach "Nonmonogamummy" nur mehr ein Annex ist, bei dem nicht mehr viel passiert. Die grundsätzliche Idee zum Album ist lobenswert. Man kann schon spüren, was Lily gefühlt hat, und an vielen Stellen überrascht sie. Die Vocal Performance zeichnet sich durch sehr bewussten Einsatz vieler Stilmittel und Techniken von Spoken Word bis Chor-Collage aus. Immer wieder flirtet die Pop-Prinzessin mit Sprechgesang und Ausdrucksformen der elektronischen Musik.

Manches ist gut bis sehr gut, manches halbgar, wie auch die Release-Policy. Das Album wurde im Dezember aufgenommen, reichlich spontan nun (digital) veröffentlicht, das aber an einem ganz schön vollen Freitag und eben diesem Standard-Wochentag für Veröffentlichungen, während CD und Vinyl erst Ende Januar lieferbar sein werden - kein Witz, sondern eine der seltsamen Marketing-Pannen, welche Lilys neuer Vertragspartner BMG Rights hier beisteuert. Dabei ist ja nun hinlänglich bekannt, dass selbst Personen von der Streaming-Größenordnung einer Lily Allen nicht von Spotify und Co. leben können. Stichwort Geld: Die Yellow Press in England kann sich demnächst mit den finanziellen Details ihrer Scheidung beschäftigen.

Trackliste

  1. 1. West End Girl
  2. 2. Ruminating
  3. 3. Sleepwalking
  4. 4. Tennis
  5. 5. Madeline
  6. 6. Relapse
  7. 7. Pussy Palace
  8. 8. 4chan Stan
  9. 9. Nonmonogamummy
  10. 10. Just Enough
  11. 11. Dallas Major
  12. 12. Beg For Me
  13. 13. Let You W/In
  14. 14. Fruityloop

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