laut.de-Kritik

In der Ruhe liegt die Wut.

Review von

Der Zorn auf die Missstände dieser Welt, auf Waffengewalt, auf die menschenverachtende Flüchtlingspolitik und den Kapitalismus lässt sich so herrlich und einfach hinausschreien. Auch Neneh Cherry nutzte zu Beginn diesen Weg, spielte mit ihrer Band The Cherries Punk. Dreißig Jahre später verpackt sie ihre Wut auf "Broken Politics" jedoch weitaus subtiler im Ruhigen, zwischen Harfe, Klavier und Marimbas.

Ein Album, das über lange Strecken wie das Gegenstück zu dem oft lärmenden Comeback "Blank Project" und "The Cherry Thing" wirkt. Wo dort noch verzerrte Bässe und aggressive Beats vorherrschten, wirkt der Nachfolger zeitweise wie eine Meditation. Viele der von Co-Autor Kieran Hebden (aka Four Tet) produzierten Songs verfügen gerade einmal über die Andeutung eines Grooves. Das dezente und ruhige Umfeld setzt Cherrys selbstbewusste Stimme klar in den Fokus. Was bleibt ist die kompromisslose Einstellung zu ihrer Musik.

In welches Genre Neneh diese auch steckt, Hip Hop, Soul, Weltmusik, Rock oder Free Jazz, in all den Jahren bleibt ihre Sprache klar und markant. Ihre fast zwei Jahrzehnte dauernde Pause machte sie nur selbstbewusster in dem, was sie möchte und was nicht. "Broken Politics" kommt ohne jegliche Kompromisse aus, zieht aufgrund der zurückhaltenden Arrangements die volle Konzentration auf sich.

"Now everything in focus, I can see it clearly / Every little detail, crystal clear in dread / Breaks my little brain, the clarity it hurts", eröffnet sie den Longplayer im melancholischen "Fallen Leaves". Passend zum herbstlichen Soundscape fallen die Harfennoten wie Blätter zu Boden. Hebden kreiert ihr eine harmonische Umgebung, wie geschaffen für Cherrys warme Stimme. "Just because I'm down / don't step all over me."

Zwar arbeitete sie bereits in "Manchild" auf "Raw Like Sushi" mit Massive Attacks Robert "3D" De Naja zusammen, doch auf "Kong" nun erstmals seit dessen Durchbruch mit "Blue Lines". Quasi ein spätes Danke für den Meilenstein, der ohne Neneh Cherrys Hilfe wohl nie erschienen wäre. Der einnehmende Trip Hop-Track mit starken Dub-Anleihen katapultiert einen direkt zurück in die 1990er und weist einige Parallelen zu "Protection" auf.

Inspiriert vom Schicksal und der Notlage der Geflüchteten im französischen Calais hebt sie nicht etwa ermahnend den Finger, sondern erzählt von ihren Gefühlen im Angesicht der Folgen des Kolonialismus und der Flüchtlingskrise. "But love is big and every land / Every nation seeks its friends in France and Italy." Ihre Worte fallen bitter aus und gipfeln in der desillusionierten Erkenntnis: "In My Day There's No Solution".

Der düstere R&B-Track "Shot Gun Shack" fällt ebenso deutlich aus. Meist nur von einem minimalistischen Knarzbeat und einem aufsteigendem Glockenspiel begleitet, klingt Cherry keinen Tag älter als auf "Buffalo Stance". Dabei gilt ihr Augenmerk der US-Waffenpolitik und der daraus resultierenden alltäglichen Gewalt. "Pick up a gun, you know you gonna use it / Know that gun, it's gonna get loaded / Say my name before you pull it / Too late, you know, just took that bullet."

Einzig "Natural Skin Deep" bricht mit der zurückgefahrenen Stimmung des Albums und wirft alles zusammen, was noch auf dem Studioboden herum lag. Dancehall? Nehmen wir. Free-Jazz? Kommt rein. Steel Drums? Aber gerne doch. Fußballtröte? Wo wir schon dabei sind. Erstaunlich, dass dieser im Grunde komplett überladene Track trotzdem funktioniert. Einzig das vorher platzierte, das Tempo anhebende "Faster Than The Truth" bewirkt jedoch, dass das Stück im Umfeld des restlichen Albums nicht vollends fehlplatziert wirkt.

Ein Song, der auf Paul Simons "50 Ways To Leave Your Lover"-Schlagzeug zurück greift, und dieses mit einem schwer zugänglichen Spoken Word-/Rap-Part zusammen bringt. Das wohl unnahbarste Lied auf "Broken Politics", in dessen Hintergrund man immer wieder leise raschelnde Blätter hört, die suggerieren, dass Neneh Cherry ihren Text abgelesen hat. Der Refrain sucht dann mit seinen warmen Keyboardakkorden und Nenehs gebrochener Stimme nach Versöhnung.

Das verletzliche "Synchronised Devotion", in dem sich der Albumtitel versteckt ("Broke some glass, broken politics"), kommt nur mit Klavier und Vibraphon aus. Störgeräusche hindern den intimen Track daran, nicht all zu glatt zu klingen. Melancholisch singt die am 10. März im Sternzeichen Fische geborene Cherry "It's my politics living in the slow jam / ... / I'm a pisces hanging from the vine / live it out a day at a time." Der schönste Song des Longplayers.

Es sind eben diese Gefühle, die aus "Broken Politics" mehr machen, als nur ein ermahnendes Protestalbum. Der Bruch zwischen Schönheit, Bitternis und dem Dreck unserer Zeit, der aus den Liedern mehr macht als "Another song, this is nothing new ("Kong"). Und die dazu führen, dass Neneh Cherrys tatsächlich erst fünftes Album trotz der ruhigen Ausrichtung nie bequem wird.

Trackliste

  1. 1. Fallen Leaves
  2. 2. Kong
  3. 3. Poem Daddy
  4. 4. Synchronised Devotion
  5. 5. Deep Vein Thrombosis
  6. 6. Faster Than The Truth
  7. 7. Natural Skin Deep
  8. 8. Shot Gun Shack
  9. 9. Black Monday
  10. 10. Cheap Breakfast Special
  11. 11. Slow Release
  12. 12. Soldier

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