laut.de-Kritik
Welcome back, 1994.
Review von Maximilian SchäfferIndustrial Music war und ist schwer definierbar, aber im kleinsten gemeinsamen Nenner zumindest immer herausfordernd und asozial. Dies änderte sich historisch mit der dritten Welle der Gattung ab ungefähr 1988. Mit Ministry und Nine Inch Nails mischten sich erstmalig Bands in den Industrial-Kosmos, deren Ansatz sich weniger an kompromissloser Experimentalmusik, sondern vielmehr an der destruktiven Verarbeitung ihrer mit der Muttermilch aufgesaugten Einflüsse der Popkultur orientierte.
Von den Veteranen der Subkultur als Kommerzmusik verschmäht, war es immer äußerst lohnenswert hinzuhören: "The Downward Spiral" ist in jeglicher Hinsicht eines der größten Alben seiner Dekade. Trent Reznor produzierte damals volldigital aus Prinzip der Kühle und im Haus der Manson-Morde aus Prinzip der Immersion.
Sein neustes Werk "Bad Witch" klingt diesmal wirklich wieder wie 1994 – leider im reaktionären Sinn. Es zischt und rauscht nach Software, dazu gesellen sich zarte Echtinstrumente und brachiale Stromgitarren. Die EP ist Abschluss einer Trilogie, komponiert mit Dauerpartner Atticus Ross. Was in oscarprämierter Filmmusik resultierte, versucht sich seit 2016 auch an gemeinsamen Mini-Alben. Mit sechs Songs und 31 Minuten Spielzeit ist das aktuelle gar am längsten ausgefallen, im Vergleich mit seinen beiden Vorgängern allerdings am schwächsten.
"Shit Mirror" gibt den fetzigen Start mit typischem Text: "Hey look what's staring back at you / Caught reflecting in your eyes / Well I'm becoming something new / It's getting hard to recognize". Ein bisschen Entfremdung, ein bisschen Mutation, so ist das nun mal bei Onkel Trent. Darauf folgen drei Songs, die weder in Sounddesign oder Songwriting viel zu sagen hätten: Collagen zwischen Noise, Drum'n'Bass und Verzerrung, an die man sich nicht erinnert.
Die erste EP "Not The Actual Events" beinhaltete, was "Bad Witch" fehlt: Einen Bogen, der trotz geringen Umfangs einen Plan erkennen lässt, der über eine reine Ideensammlung hinausweist. Einzig "God Break Down The Door" überrascht mit Saxophon-Patterns, die sich über einen nervösen Trip-Hop-Track legen.
Das lyrische Mantra "God break down the door / You will find the answers here" legt sich sich in vier Minuten über wabernde Synthesizer mit Breakbeats. Zuletzt versöhnt mit "Over And Out" noch ein wahrhaftiger Song mit hervorragendem Arrangement und orientalisch anmutenden Samples. Man muss sich ja nicht ständig neu erfinden, aber zumindest sollte Reznor zeigen, wieso er einst Meister seiner Klasse war. Nicht dass ihn am Ende noch die Jungspunde mit dem Macbook überholen.
Während auf den letzten EPs der Zeitensprung noch gut gelang, verlieren sich Nine Inch Nails 2018 zumeist im selbstgemachten Anachronismus. "Time is running out" – vielleicht ist Reznor heute bei der Filmmusik besser aufgehoben, denn "Bad Witch" nervt nicht, sondern plätschert eher so dahin. Eine Qualität, die es noch weiter vom Industrial entfernt als die Meisterwerke von vor 25 Jahren.
7 Kommentare mit 4 Antworten
Der alte Hase zeigt den Jungspunden immer noch, wo der Hammer hängt. Aber immerhin hat der Rezensent bewiesen, daß er die Bandgeschichte kennt - ist ja auch schon mal was.
keine ahnung ob die jungspunde ihn überzholen. die neue fla hat im genre konzeptionell und atmosphärisch jedoch definitiv die nase vorn. nins trilogie kann man hingegen auf eine sehr gute mini-lp zusammenschneiden. hätten die beiden auch tun sollen.
Ich würde schon sagen, dass Song eins bis vier nervt, was ja nicht schlecht sein muss.
Wie er bei "Over and out" das Piano eingespielt hat, ist aber genial. Ich dachte es kommt aus der Nachbarwohnung.
" "Time is running out" – vielleicht ist Reznor heute bei der Filmmusik besser aufgehoben" - nein.
Hm, ich persönlich kann der Rezension nicht zustimmen. Ich mag die Mischung von teils jazzigen Bläsern und nervösen Beats - etwas was man so von NIN noch nicht kannte - und finde, dass 'Bad Witch' die Trilogie gut abschließt. Da war 'Hesitation Marks' immer noch schwächer im Vergleich.
^Sehe ich ähnlich, bezüglich des Saxophons. Die EP Trilogie ist im Großen und Ganzen leider was durchwachsen, mit vielen Experimenten, die eher als Filmscores funktionieren würden. Aber da kommt dann immer mal wieder das Genie zum Vorschein - hier mit "Over and Out". Reznor sollte nochmal versuchen, eine fiktive Story in seine Konzeptalben zu flechten, ähnlich "Year Zero", was ich für das stärkste NIN Album (Downward Spiral ausgeschlossen) halte. Ich fand, es hat wunderbar funktioniert eher politische und technologische Themen aufzugreifen anstatt die Teenage Angst mit 50 zu wiederholen.