laut.de-Kritik
Ein Punkrock-Song dauert drei Minuten? Kümmert Mark E. Smith nicht.
Review von Jasmin LützMark E. Smith ist für viele Fans und Künstler ein Idol und Vorbild. Weil er ein großer Tyrann sein kann, ein sarkastischer Spötter und weil er durchgehalten hat. Mit seiner Band The Fall verbreitet der Ex-Dockarbeiter nun schon seit 1977 Punk-Parolen und hustet zynische, oft düstere Texte mit starkem Manchester-Akzent ins Mikrofon.
Mark E. Smith ist The Fall und The Fall polarisieren: Es wird immer Leute geben, die mit dieser Band überhaupt nichts anfangen können. Mit der avantgardistisch-unkontrollierten Soundgewalt der Rhythmus-Truppe bestehend aus Steve Hanley am Bass, Craig Scanlon und Brix Smith Start an den Gitarren, Paul Hanley und Karl Burns am Schlagzeug, aber vor allem mit dem nuschelnden, stets unfrisierten und meist schlecht gelaunten King Ober-Motzi in der ersten Reihe.
Nur wenige Bandmitglieder halten es bis heute länger bei Smith aus. Trotzdem kommen The Fall auf sagenhafte 31 Alben (die zahlreichen EPs, Remix- und Live-Alben nicht mitgerechnet). Da fällt es schwer, sich für ein grandioses Werk zu entscheiden. Der sechste Longplayer "Perverted By Language" sollte aber in jedem gut sortierten Plattenregal stehen. Es ist das Band-Debüt von Smiths damaliger Frau Brix (The Adult Net), die Songs wie "Hotel Bloedel" und "Eat Y'self Fitter" ihre extravagante Stimme verleiht und dem ganzen Post-Punk-Rotz eine frische Brise einhaucht.
Weil sich Mark E. Smith nie an Regeln gehalten hat, ist es auch schwierig, seiner Musik einen Stempel zu verpassen. Natürlich steht Punk an oberster Stelle. Mark E. liebt es aber auch mal kunstvoll und abgedreht. "Rock as you Can". Als Einflüsse nennt er meistens Captain Beefheart und The Velvet Underground. Songs wie "The Wonderful And Frightening World Of The Fall" (1984) versprühen dagegen sehr viel Pop, wie auch 2003 das Album "Country On The Click".
"Perverted By Language" steht für den Beginn dieser Entwicklung. Ja, The Fall können auch freundlich klingen. Vielleicht ist es der Einfluss von Brix, die bei "Hotel Bloedel" die Lead-Stimme übernimmt und dazu noch Gitarre spielt. Nicht nur der Titel bleibt einem im Gedächtnis, auch ihre Stimme prägt sich ein, die Mark E.s Sprechgesang schräg und melodiös umgarnt. Der Song basiert angeblich auf einer wahren Begebenheit: Mark E. Smith und Brixe übernachteten in einem Hotel in der Nähe von Nürnberg ("Nuremberg"), als ihnen beim Betreten des Zimmers zu später Stunde ein unangenehmer Geruch in die Nase steigt.
Mark E. fand es sehr gruselig und war der Meinung, es würde spuken. Um die bösen Geister zu vertreiben und den Gestank zu übertünchen, machten sie überall Kerzen an. Am nächsten Morgen ist der Spuk schnell vorbei, als sie neben ihrem Hotel ein Schlachthaus entdecken. "Then fled to Hotel Bloedel, outside Nuremberg. A long way south, to a reasonable smell of death ..." Derartige Psychotripps hat es in der Geschichte der Band wie auch intensiven Drogen- und Alkoholkonsum öfter gegeben.
Im Opener "Eat Y'Self Fitter" kommt noch der ordentliche Rockabilly durch. Rumpelnd erklingen die Drums der beiden Schlagzeuger Hanley und Burns. Der Bass zieht sich geduldig durch die einzelnen Strophen. "Don't wanna be a victim", nölt Smith ins Mikro. Im Refrain verstummen die Instrumente, und nur der Chor antwortet monoton mit "Eat Y'Self Fitter". Yeah, das sitzt. John Peel nimmt den fast siebenminütigen Song sofort auf Sendung. Der Radio-Moderator gehörte sowieso zu den größten Fans - von ihm stammt auch das bekannte Zitat über The Fall: "Always different, always the same".
Die Energie zweier Schlagzeuger hört man auch bei "Neighbourhood Of Infinity". Da ist einfach noch mal mehr Wumms drin. Bands wie The Dirtbombs aus Detroit sind auch für ihre doppelte Schlagkraft bekannt. "Garden" überrascht dann schon wieder mit fast ruhigeren Tönen, bevor zum Ende hin noch mal ordentlich die Melodie aufwirbelt. The Fall waren nie eine Art-Rock-Band, beeinflussten dennoch zahlreiche Zeitgenossen und auch bildende Künstler. Die Haltung der Gruppe, die Texte und die Musik inspirierte die Kunstszene weltweit. Der Amerikaner Claus Castenskiold gestaltete das Cover-Artwork von "Perverted By Language".
Beinahe psychedelisch beginnt "Smile" mit dem typischen Smith-Sprechgesang, bevor er dann immer wieder "Smile" kreischt und dabei an Post-Punk-Vorbild Alan Vega (Suicide) erinnert. Ein einprägsamer Song, genauso wie "I Feel Voxish". Von der monotonen Basslinie und den schrägen Pianotönen bekommt man gar nicht genug und tänzelt grinsend vor sich hin. Der Wunsch nach einer einwandfreien Studioplatte war für The Fall nie wichtig. Je mehr es sich nach Kassettenaufnahme anhört, umso besser. Da wird auch mal eine Live-Aufnahme aus dem Hacienda Club in Manchester mit auf die Platte genommen ("Tempo House"). Ein Punkrock-Song dauert nicht länger als drei Minuten? Kümmert einen Mark E. Smith nicht. Ein Stück kann auch mal knapp zehn Minuten dauern. Worte findet er ausreichend, so auch bei "Hexen Definitive/Strife Knot". Es muss nicht immer Punk und Rotz, sondern darf auch mal ein Ausflug in den Western-Country sein.
Zusammen mit dem 1980er Album "Grotesque" und einigen Live-Scheiben erscheint "Perverted By Language" dieser Tage als frischer Re-Release via Westworld Recordings und könnte somit eine neue Generation für den Mann begeistern, der mitunter als Rock'n'Roll-Hero gefeiert wird. Viel hält er von dieser Idealisierung nicht, wie er uns im Interview schon 2001 erklärte: "Das ist ziemlich schwer für mich. Ich gehe meine eigenen Wege. Ich mag es nicht, wenn Leute mich in diese Sparte drängen. Ich möchte mich nicht für alle verantwortlich fühlen. Es gibt eine Menge Scheiße da draußen. Wenn ich sterbe, muss ich womöglich noch dafür zahlen."
Am 5. März 2017 wird Mark E. Smith 60 Jahre alt. Hoffentlich steht er auch noch als Opi auf der Bühne, denn mittlerweile sieht man sogar immer häufiger mal ein Lächeln auf seinen Lippen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
9 Kommentare mit 2 Antworten
!
‽
Hab The Fall irgendwie immer übersehen und dann hat mich der Umfang der Diskografie irgendwie abgeschreckt. Im Moment versuche ich mich an 458489 A Sides und 458489 B Sides, gehen echt ganz gut rein. Werde oben mal reinhören.
Ja, dank Spotify und co. neigt man dazu bei allzu umfangreichen diskografien zu resignieren. Dann hört man sich die 5 meistgespielten Tracks an und denkt man wüsste was von der Musik.
Jasmin sollte öfters was mit Meilensteinen machen.
Zu den Verbindungen zwischen The Fall und meinem Leben könnte ich ein ganzes Buch füllen. Was ich streng genommen gerade in meiner Freizeit auch tue...
Für die Meilensteinsektion ganz klar die Frage "Wann", nicht "Welche Platte".
Rezi ist dazu ist sehr gut gelungen, vielleicht übernehme ich 1-2 Passagen
Mit Quellenangabe, versteht sich.
Bussi, euer Karl-Theodor!
Bei mir nicht, ich habe mir einfach die besten 20 Songs, also 2-3 pro Album ausgewählt und höre sie regelmäßig. Naja, jetzt auch nicht mehr.
Mir haben auch eher die Ende 80er - 90er gefallen: Selfish, Frenz, Oranj, Shift Work.