laut.de-Kritik
Hits ja, "Bravo" nur vereinzelt.
Review von Jakob HertlLeute, es gibt sie noch: die Bravo Hits! Als ich das gelesen habe, hätte ich mich beim "TV Total" schauen vor Schreck beinahe an meinem Hubba Bubba verschluckt und mein Nokia-Tastenhandy fallen gelassen. Seit 1992 erscheint die Kult-Compilation, in den letzten Jahren ist sie von der ganz großen Bildfläche verschwunden, aber eben auch nie komplett in der Bedeutungslosigkeit versunken – ein bisschen wie der HSV.
Mittlerweile sind wir bei der 117. Ausgabe angelangt, und es hat sich nicht viel geändert: die Bravo Hits sind immer noch eine Hassliebe-Ansammlung der großartigsten und schlimmsten Chart-Songs. Werfen wir deshalb mal einen Blick auf alles, das aus der Mainstream-Mischung heraussticht.
Angefangen bei der ultimativen Deutschland-Power-Kombi "In Your Arms (For An Angel)" von den DJs Paul Van Dyk, Topic und Robin Schulz sowie Sänger Nico Santos. Ersterer ist zweifelsohne einer der legendärsten deutschen EDM-Acts, Topic und Robin Schulz gehört die Gegenwart und wohl auch die nahe Zukunft. Und Nico Santos ist halt auch dabei, kann ja ganz nett singen. Ganz nett beschreibt auch den Track passend. Klingt modern, nicht verkehrt, von dem Aufgebot hätte man aber etwas mehr erwarten können.
Auch der Mega-Trend-Hit des Sommers "Do It To It" von Acraze darf nicht fehlen. Fun-Fact hierzu: die Inspiration kam dem US-DJ, als er den Originaltrack von der Girlgoup Cherish in einer Instagram-Story hörte und sein Handy anfing zu glitchen und im Song hin und her sprang. Ungewöhnliche Entstehung, den Zeitgeist hat er mit dem Tech-House-Mix aber allemal getroffen.
Was für Musik-Trends sind sonst noch so aufgekommen in letzter Zeit? Ach ja, Drill. "Night Away (Dance)" von A1 x J1 und Tion Wayne ist dabei ein echtes Phänomen. Der Song samplet die Melodie aus JLos "On The Floor", das sich wiederum an Kaomas "Lambada" orientierte, das wiederum "Llorando Se Fué" von Los Kjarkas zum Vorbild hatte. Ideen-Recycling war eben schon immer ein Erfolgsgarant.
Deswegen muss man in den Bravo Hits 117 schon genau suchen, um überhaupt einen Track zu finden, dessen Melodie man nicht schon mal irgendwo gehört hat. "Hallucination" von Regard bedient sich bei Imanys "Don't Be So Shy", "Hopeless Heart" von Keanu Silva bei Robert Miles' legendärem "Children" und so weiter. Gut, dass es noch ehrliche, hochkarätige Songs wie unseren ESC-Shit ... äh ... Hit "Rockstars" von Malik Harris gibt. Kleiner Scherz am Rande.
Tatsächlich will ich die Wiederverarbeitung vergangener Erfolgs-Songs aber überhaupt nicht verteufeln. Dass man das auch gekonnt lösen kann, beweist etwa Kungs mit der Disco-Hymne "Clap Your Hands".
Ansonsten gibt es auf der ersten Disc zwischen viel 0815-Pop eher wenige Highlights. Charlie Puths "Light Switch" gehört sicher zu diesen – allein schon, weil er es mit einem Lichtschalter-Sound in die Charts geschafft hat. "Lonely" von Zoe Wees überzeugt mit einem sehr persönlichen, bewegenden Text, Lukas Graham setzt seine hervorragende Stimme in "All Of It All" in Szene. Und für alle, die es etwas härter mögen schiebt "Move Your Body" von Öwnboss ordentlich.
War Disc 1 noch recht stark auf EDM konzentriert, rückt der Fokus auf der zweiten Disc zunehmend in Richtung Hip Hop. Teilweise mit Ami-Stuff, etwa von Internet Money und 24kGoldn ("Options"), aber auch häufig mit Deutschrap von SDP und Montez ("Wie Viele Lieder Muss Ich Noch Schreiben?"), Fourty und Mathea ("Wenn Du Mich Vermisst") oder T-Low und Miksu/Macloud ("Sehnsucht"). Alles ok, aber auch ohne die ganz krassen Höhepunkte.
Diese liefern dafür zwei junge Kanadierinnen: Lauren Spencer-Smith mit ihrer emotionalen Ballade "Fingers Crossed" und Tate McRae mit dem Teenie-Pop-Stück "She's All I Wanna Be". Mit 18 Jahren war mein größter Erfolg eine 2-3 in Mathe, die beiden haben es jetzt schon weltweit in die Charts und nun auch auf unsere Bravo Hits schaffen. Kann man mal so machen.
Besonders Tate McRae sollte man wegen ihres zeitgemäßen Songwritings und ihrer einzigartigen Stimme auf dem Schirm haben. Bereits seit zwei Jahren prophezeie ich ihr eine kometenhafte Karriere, Ende Mai kommt endlich das Debüt-Album. "She's All I Wanna Be" ist sicher einer ihrer schwächeren Songs. Trotzdem: merkt euch unbedingt den Namen.
Auch die Doppelsingle "Scheiß Wessis"/"Scheiß Ossis" von Marteria und den Toten Hosen hat vielen Chart-Songs zumindest die gute Message voraus. Ebenfalls symbolische Wirkung hätte ein Sieg der Ukrainer beim diesjährigen ESC. Ich muss allerdings sagen: musikalisch wäre es nicht unverdient, "Stefania" von Kalush sticht nämlich auch aus den Bravo Hits positiv heraus.
Und sonst? Mit Milky Chance ("Synchronize") macht man wie gewohnt nichts falsch. George Ezra sorgt mit "Anyone For You (Tiger Lily)" für Feel-Good-Vibes, Dove Camerons "Boyfriend" transportiert eine gelungene Mischung aus Eleganz und Power. Auf "Sigue" von J Balvin und Ed Sheeran und die üblichen Charts-Kandidaten Justin Bieber ("Attention") oder Coldplay mit Selena Gomez ("Let Somebody Go") hätte ich gut verzichten können, weil langweilig.
Prinzipiell gilt nach wie vor: wer das Radio beim zehnten Pop-Hit in Folge gerne voll aufdreht, ist hier genau richtig. Wer mit Mainstream-Mucke nichts anfangen kann, lässt davon lieber die Finger. Zwischen erwartbaren Artists wie Shawn Mendes, One Republic, Clean Bandit oder Tones And I verstecken sich ein paar Schätze. Hits sind ohne Zweifel alle Songs, "Bravo" kann man aber nicht zu jedem davon sagen.
5 Kommentare mit 5 Antworten
Dazu hattet ihr noch keine Rezi
Sind das echt 50 Songs auf Doppel-CD? Früher waren immer max 20 Stück pro Scheibe drauf, meine ich.
Verkaufen sich solche Compilations in Streaming-Zeiten überhaupt noch gut?
Freue mich schon auf die 116 Meilensteine, die ihr nachzuholen habt!
Damals zu Grundschulzeiten waren Bravo Hits noch der Shit. Der einzige Weg, den ganzen Schund, den man gehört hat, zu halbwegs vernünftigem Preis auf einmal zu bekommen - wenn man nicht gerade mit Kassettenrekorder stundenlag vorm Radio sitzen will, um die einzelnen Songs per Hand aufzunehmen.
???? und wehe es kam ne Verkehrsmeldung oder der doofe Moderator quatscht zu früh rein.
Wenn man von den genannten 33 Künstlern nur noch acht kennt, ist man alt. Richtig?
Nein, sein Geburtsjahr im Nick anzugeben macht einen alt.
Ob es tatsächlich Menschen gibt, die alle 117 im Regal stehen haben?
Ein ehemaliger Kollege von mir sammelt die tatsächlich, sind unterm Strich auch mehr als 117 bisher, gibt ja noch die Jahrescompilations und die Sondereditionen, wenn man alles hat, wird man da bestimmt an die 200 CDs kratzen allein durch BRAVO.
Krass, wobei ja letztlich kein Sammelgebiet zu absurd ist, als das das nicht jemand verfolgen würde.
Bei den Bravo Hits gibt es nicht nur gute sondern auch nicht so gute Musik ???? sieht jeder anders mit dem Musikgeschmack.