laut.de-Kritik

Hügel, für die es sich zu sterben lohnt.

Review von

Ich habe lange keine Review mehr so schlimm aufgeschoben wie diese hier. Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier ein Countrythema anschleppe. Jason Isbell, Morgan Wallen, Shaboozey, auch über das jüngste Album von Zach Bryan habe ich gesprochen. Aber jedes Mal hat sich das angefühlt, als würde ich nur auf Phänomene reagieren, die da gerade in den USA den Pop dominieren.

Die Frage, was Country in Deutschland für eine Rolle spielen könnte, ist sehr eng mit meinem Zugang zu diesen Album verknüpft. Etwas ausgeholt: Country holt sich gerade die USA zurück. In ein oder zwei Jahren wird es dort aller Voraussicht nach wieder das größte Genre sein. Opportune Zeit für jemanden wie mich, mein Interesse daran zu entdecken. Erfolgsfan-Shit, ich weiß. Die ganz großen Hitter sind interessanterweise auch nicht wirklich zu uns übergelaufen - ich meine zumindest keine Erinnerung daran zu haben, dass "Last Night" oder "Something In The Orange" hier groß eine Rolle gespielt hätten. Trotzdem laufen aktuell "Tipsy (A Bar Song)", "Texas Hold 'Em" und - besonders interessant - "Austin" von Dasha im Radio. Schlägt da etwas über? Kommt da etwas auf uns zu? Wer weiß schon, was passieren wird.

Ich hatte auf jeden Fall das Bedürfnis in dem Monat, seit Zach Bryan dieses Album veröffentlicht hat, dieser "Great American Bar Scene" für mich nachzuspüren. Ich habe mich quergehört, Garth Brooks, Loretta Lynn, Hank Williams, John Prine, aber auch modernere Indie-Country-Leute, die man auf Blogs namens Whiskey Riff aufspüren kann und die vor allem live spielen. Keine Sorge, ich werde mich nicht als Experte aufspielen, aber trotzdem blieb mir irgendwie das Gefühl, als würde ich da einen ganz neuen, mir vorher unbekannten Stammbaumzweig der Gitarrenmusik aufdecken, auf den mir bekannte Musik offensichtlich immer wieder angespielt hat.

Obwohl ich wie viele in diesem Land in einer kulturell durch und durch amerikanisierten Ursuppe schwimme, war es schockierend für mich, zu realisieren, dass es da ein ganzes Biom an Musik gibt, das ich nicht nur nicht kenne, sondern sich mir nicht mal per kultureller Osmose nah anfühlt. Man müsste zum Beispiel kein "Star Wars" geguckt haben, um sich grob zusammenzureimen, worum es da geht. Man kriegt es mit. Aber mit Country? Da ist einfach ganz viel Land zwischen diesen beiden Küsten, in dem eine weirde Parallelrealtiät des weißen Amerikas existiert, die ganz andere Musik macht. Das nächste, was mir kulturell irgendwie dazu einfällt, wäre das Country-Radio in GTA: San Andreas, das mir mit perfider Präzision fremde Nostalgien für 70er-Banjomusik eingeflößt hat, während ich vom Sanchez-Motorrad mit der Uzi Hillbillys erschossen habe. Gute Zeiten.

Soweit die seltsame Fremdheit von Country als Genre. Das wollte ich einmal ausbreiten, um zwei Grundgedanken zu "The Great American Bar Scene" festzuhalten. Erstens habe ich ein bisschen Angst davor, auf dieses Genre in meinen naiven Ausflügen zu reagieren, wie die liberale Presse vor zehn Jahren auf "Hillbilly Elegie" von J.D. Vance reagiert hat und diesen ganzen Laden, und die Idee von "white rural America" komisch zu glorifizieren oder exotisieren. Zweitens muss ich wohl damit leben, dass ich seltsame Querverweise nutzen werde, um den mir fehlenden Referenzapparat für dieses Album aufzufüllen.

So - jetzt können wir endlich über die Musik sprechen. Die, und dieses Urteil habe ich jetzt lange genug aufgespart, kriegt mich nämlich weiterhin extrem doll. "The Great American Bar Scene" skaliert eine Stufe runter von seinem absoluten Durchbruchs-Tape "Zach Bryan", ich empfinde es aber nicht unbedingt als Schritt zurück. Die titelgebende Energie findet sich hier überall: Bryan zeichnet ein Mosaik aus vielen kleinen, liebenswert erzählten Eindrücken seines Bekanntenkreises.

Mich erinnert das an alte Freunde aus der Gastro: Das sind Jungs und Mädels, die alle zwei Jahre ihren Wohnort wechseln, deren Tag- und -Nacht-Ryhthmus institutionell gefickt ist und die einen endlosen Vorrat an Suff- und Raufgeschichten haben. Bryan würde nahtlos reinpassen und macht aus diesen beiläufigen, sich durch wiederholtes Erzählen verselbstständigen Geschichten seine ganz eigene Kunst. Das kann akut schmerzende Nostalgie sein ("Boons", "Mechanical Bull") oder in der eigenen Absurdität fast zu einem kleinen Western hochgejazzt werden ("Oak Island").

Er macht das so interessant, weil er Genre-typisch nicht nur sein Leben erzählt, sondern Sprachrohr einer ganzen Community ist. Besonders, wie er auf diesem Tape nicht nur Legenden wie Bruce Springsteen oder John Mayer (auf dem schlechtesten Song, lol) gastieren lässt, sondern auch Indie-Country-Hoffnungen wie eine brillant in sein Ennui einstimmende Noelie Hoffmann auf "Purple Gas". Das Album, wie Bryan erzählt, es klingt immer ein bisschen geschafft, immer übernächtigt, aber immer so, als wüsste er, dass da vertraute Menschen auf ihn warten, wo auch immer hin es ihn verschlägt.

Das gipfelt im besten Track des Albums, "28": "You took a train to the south side of Boston / You showed me where your old man stayed / Took twenty-eight years of blood I was lost in / To feel loved on my own birthday" skizziert er in einschlägigen Bildern ein konstant vertagtes Homecoming, bevor er in einer Monsterhook gipfelt: "How lucky are we / It's been hell of a week / And you're all grown now". Es fühlt sich an wie ein Ausatmen, wie ein Druck, der von der Brust genommen wird. Immer wieder geht es auf diesem Album auch um Hügel, quasi die Umkehr auf die Frage: "do you wanna die on this hill?" - und Bryan skizziert dann genau die Hügel, für die es sich zu sterben lohnen würde. "The kids are in town for a funeral / And the grass all smells the same", richtet er zum Beispiel auf "Pink Skies" an einen verstorbenen Verwandten und resümiert: "If you could see 'em now, you'd be proud / But you'd think they's yuppies". Widersprüchliche Liebe, perfekt erwischt.

Musikalisch fehlt dem Album vielleicht ein bisschen die Vielseitigkeit von "Zach Bryan" und zeigt auf die Stunde Laufzeit eventuell sogar vereinzelte Längen. Trotzdem fällt es niemals unter die Kategorie vibig und verzeichnet trotzdem einige extreme Hochs: Die Pop-Instinkte werden auf "28", "American Nights" und "Pink Skies" ausgelagert, aber auch die Rock-Ideen können stellenweise ganz schön Kraft annehmen. "Mechanical Bull" hat Power und das Jamband-Finale von "Oak Island" klingt wie etwas, das man auch auf einem Godspeed You! Black Emperor-Album hören könnte. Kein Scheiß.

Also: Country. Ich weiß wirklich nicht. Vielleicht wird es für uns immer der fremde, ur-amerikanische Fleck am musikalischen Firmament bleiben und Bryan und Wallen werden keine großen Stars in Europa. Vielleicht sollte ich diese kleine Phase, die ich durchlebe, auch gar nicht so sehr an Nummern oder Trends festmachen. Country hat einen Moment, auf jeden Fall, und man muss nicht im Rust Belt aufgewachsen sein oder die Badlands in "GTA: San Andreas" zum Mond und zurück gespielt haben, um zu merken - Leute wie dieser Zach Bryan, die haben im Moment ordentlich etwas zu erzählen. Ich bin ein sehr angetaner Zaungast.

Trackliste

  1. 1. Lucky Enough (Poem)
  2. 2. Mechanical Bull
  3. 3. The Great American Bar Scene
  4. 4. 28
  5. 5. American Nights
  6. 6. Oak Island
  7. 7. Purple Gas (feat. Noeline Hofmann)
  8. 8. Boons
  9. 9. The Way Back
  10. 10. Memphis; The Blues (feat. John Moreland)
  11. 11. Like Ida
  12. 12. Bass Boat
  13. 13. Better Days (feat. John Mayer)
  14. 14. Towers
  15. 15. Sandpaper (feat. Bruce Springsteen)
  16. 16. Northern Thunder
  17. 17. Funny Man
  18. 18. Pink Skies (feat. Watchhouse)
  19. 19. Bathwater

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