laut.de-Kritik

Mehr Bass-Kanten als sanfte Pop-Loops.

Review von

Skye wäre wohl ein Bedroom-Pop-Mädchen, würde ihre Jugend sich heute ereignen. Ruhige Lieder an der Gitarre nahm sie auf, als Ross Godfrey sie vor 30 Jahren ins Studio bat, um mit seinem Bruder und ihr Morcheeba zu gründen. Der neue Titelsong "Escape The Chaos" erinnert an diese Wurzeln der Sängerin, die immer wieder Tunes von buddhistisch anmutender Gleichmut und innerer Balance veröffentlichte. Dem Chaos der Welt kann man auf dem ganzen "Escape The Chaos"-Album wirklich entkommen, so sortiert und mit sich selbst im Reinen wirkt die Rhodes- und Wurlitzer-Tektonik. Geschmeidig klingt sie am Ende der Platte schließlich auch. Und doch grummelten die Bässe schon lange nicht mehr so kantig und schwer wie auf diesem zehnten Skye-und-Ross-Longplayer. Schon lange hatten die Songs des Indie-Tüftlers und seiner gewandten Texterin nicht mehr so viel Spiritualität.

Es war Oktober 1995, YouTube gab es nicht, weder an MySpace noch Soundcloud oder gar TikTok war zu denken, Songs erschienen auf Maxi-CDs. Inmitten der Bristoler Tristesse von Portishead, der karibischen Grooves von Massive Attack, der rumpelnden Tieftöne von Trickys frischem Debüt machte sich in den Clubs eine neue Strömung von der Themse breit, die sich anfangs zwischen Rollos und Ross' Beats hindurch schlängelte. Wo bei Faithless das Pathologische durch drang, die "Insomnia", Schlaflosigkeit, da waren es bei Morcheeba "Love love love" und "The music that we hear", frei nach dem Flowerpower-Motto Liebe, Friede, Eierkuchen. Viel mehr als Musik und Liebe brauchte es bei Morcheeba nicht auf dem Pfad zum Glück, und in ihrer Melancholie zeigten sie die Auswege des 90er-Jahre-Hippies, des "Trigger Hippie", der sich auf dem "Moog Island" in einer "Tape Loop" dreht und auf rollenden Bässen fortbewegt, 28 Jahre nach Monterey, 26 nach Woodstock.

Wie sehr die Londoner jetzt weitere 30 Jahre später wieder ihre Hippie-eigene Psychedelic entdecken, etwa im charismatischen Instrumental "Cooler Heads Prevail", gar Psychedelic-Rock-Gitarren in "Pareidolia", das kann man als nostalgisch verbuchen. Damit übertreiben sie es nicht, es wirkt stimmig. Sogar das schnuckelige Cover-Artwork passt optisch dazu. Auch wie umfassend sie Bass-Trassen bauen, deren Benutzung sich wie ein Beben anfühlt, führt geradewegs zurück in den Herbst '95 und zu den Pionier-Taten.

Es überzeugt und fesselt die Kombination aus Skyes Stimme und grollend los polterndem Drum'n'Bass mit kurzen retardierenden Momenten, in denen sich die Drum-Machine aus ihren epileptischen Anfällen befreit und wieder in den Basis-Rhythmus einfädelt, einen schlurfenden Trip Hop-backbeat. "Call For Love" funktioniert so, der Premium-Track "Molten" steigert das Elektrisierende dieser Mischung. "Elephant Clouds" bietet die lässige Variante dieser Handschrift, mehr smarte harte Kanten als cozy Pop-Loops.

Wie schon ihre letzte Platte es ein kleines bisschen versprach, befinden sich Morcheeba auf dem Weg zurück von den Kaugummi-klebrigen Ohrwürmern der 2000er und 2010er, von den banal-beiläufig oder manieriert gewordenen Kuschel-Sounds. Zugegeben: "We Live And Die" hätte es auch auf den meisten Godfrey-Scheiben jener Zeit geben können, "Bleeding Out" balanciert wie gehabt zwischen pulsierendem Pumpen und smoothen, Hooverphonic-artigen Hüpf- und Gleit-Impulsen.

Doch die weiteren Songs vermeiden solche Austauschbarkeit. Prägnante Szenarien rufen die Londoner vor Augen: Den Vibe guter Gespräche zwischen einander ergänzenden Seelenverwandten in "Call For Love", die Stimmung nach einem Sommertag auf einem Campingplatz am See beim romantischen Sonnenuntergang zwischen Chillen und Bewegung in "Molten", Beach-Volleyball am Strand von Rio de Janeiro bei der Samba-Perkussivität von "Dead To Me", wo schon die gleitenden und flowenden Beats eine Gewässer-Oberfläche nachahmen. Mit seiner Nähe zum französischen Chanson der Siebziger passt "Dead To Me" aber auch in ein Straßencafé an der Côte d'Azur. Kurzum: Hier ist Urlaub angesagt.

Obwohl sich das vielleicht so liest, als ob Morcheeba hier Klischees breit walzten, strahlen diese Tracks viel Eigenwilligkeit aus. Ausgerechnet dort, wo man mal auf jung und stylish macht, beim Aufkreuzen eines Rappers namens Oscar, tappt das Duo aber wirklich in die Stereotyp-Falle. Seit Mike Skinner hat wohl jeder eine bestimmte Schablone von London-Rap im Ohr. "Peace Of Me ft. Oscar #worldpeace" bedient dieses Muster, liefert jedoch so gar nichts Eigenes oder Ungehörtes. Rap-Acts banden sie schon mal wesentlich besser ein. Immerhin sorgt der Kontrast zwischen Oscars Wangentaschen-Akzent-Sprechgesang und Skyes malerischen Vocals für etwas Reibung.

Beim vertrauten Northern Soul und alerten Weltstadt-R'n'B von "Hold It Down" und dessen treibender Rhythmik versteht man allzu gut, wieso Funk-Queen Chaka Khan die beiden Morcheeba-Köpfe als Headliner des von ihr kuratierten Meltdown-Festivals 2024 gewinnen wollte. Bis man Morcheeba wieder in Deutschland und der Schweiz erleben kann, dauert es bis Oktober '25. Die quirlig-lebendigen, teils beschleunigenden und doch oft in sich ruhenden Nummern des neuen Albums wecken auf diese Tour unmittelbar große Lust.

Trackliste

  1. 1. Call For Love
  2. 2. Elephant Clouds
  3. 3. Peace Of Mind ft. Oscar #Worldpeace
  4. 4. We Live And Die
  5. 5. Far We Come
  6. 6. Molten
  7. 7. Bleeding Out
  8. 8. Cooler Heads Prevail
  9. 9. Hold It Down
  10. 10. Dead To Me
  11. 11. Pareidolia
  12. 12. Escape The Chaos

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