laut.de-Kritik
Am Rande des Kollaps.
Review von Ulf Kubanke"So was muss ich mir nicht anhören. Ich lege die Aufnahme rein und dann verschwinde ich. Wenn ihr fertig seid, sagt mir Bescheid." So der Tontechniker der New Yorker Scepter Studios im September 1967 während der Aufnahmesessions zu "The Velvet Underground & Nico". Hätte der arme Mann nicht fluchtartig Reißaus genommen, er wäre Zeuge eines musikhistorischen Moments geworden: der Schöpfung dieser radikalsten aller bis dato erschienenen Platten populärer Musik.
Die Sphinx aus Eis ist im Sommer 1968 nicht mehr im Velvet-Boot. Nico und Andy Warhol sind längst von Bord. Und die beiden Alphatiere Lou Reed und John Cale verstehen sich auch nicht mehr so super. Ihre ohnehin niemals konfliktfreie Beziehung kippt ins Explosive. Regelmäßige Zornausbrüche und Raserei stehen auf der Tagesordnung. Die Hassliebe des großen New Yorkers und des nicht minder bedeutsamen Walisers bringt die Band ständig an den Rand des Kollaps.
Nicht so schön für die Velvets, aber ein echtes Geschenk für die Entwicklung der Musikwelt in den kommenden Dekaden. Die Streithähne sind sich im künstlerischen Konzept immer noch einig und nutzen das Feuer ihrer Wut als Energiequelle für die zweite LP. Getrieben von der Idee, gemeinsam etwas Monumentales zu vollbringen, gehen sie musikalisch wie lyrisch bewusst noch einen Schritt weiter.
Bereits mit der Bananenplatte brachen sie mit nahezu allen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln moderner Musikschemata. Aus der Sicht von Lou und John lediglich ein netter Anfang. "White Light/White Heat" lässt nun alle Dämme hemmungslos brechen. Alle Regeln der althergebrachten Form machen sie gemeinsam dem Erdboden gleich. Mit derber Verzerrung, Drones, Dissonanzen und einer wahren Feedbackorgie kloppen sie die klassisch saubere Strophe-Bridge-Refrain-Formel in genau jene Tonne, in die sie nach Ansicht der beiden Popketzer längst gehört.
Nach den Erinnerungen von Cale galt es vor allem, einen Schritt weiter zu gehen als die von VU sehr geschätzten Bob Dylan und Jimi Hendrix. Reed mochte die Hinwendung seiner Bobness zu elektrischen Instrumenten und dessen literarische Texte. Bei Jimi hingegen schätzten sie Feedback und Sound. Doch beide waren ihnen nicht konsequent genug dekonstruierend.
Genau dieser Prozess - vom klassischen Songwriting zum totalen Zerbersten - ist in vorliegendem Boxset erstmals erschöpfend und mit teilweise uveröffentlichtem Tonmaterial aus John Cales Archiven komplett dokumentiert. Von A bis Z werden alle Wünsche von Fans wie Neulingen gleichermaßen erfüllt. Unzählige Alternate Takes, Outtakes und ein superbes Livekonzert runden das remasterte Spektakel auf insgesamt drei CDs ab.
Schon beim noch recht eingängigen Titelsong als Opener macht Reed allen klar, dass seine Vorstellung von Rock'n'Roll keine Kaffeefahrt wird. In seinen Zeilen bleiben vom Tage nur die Nächte. Vom Überleben in eben diesen handelt so gut wie jeder Song. Eine einzige Tour de Force durch abseitige Clubs auf der falschen Seite der Stadt, während man komplett dicht und auf Speed ist.
Auf der anderen Seite des Planeten zeigt sich in London ein sehr junger, rotblonder, blasser Hänfling zutiefst beeindruckt von diesem Track. Schlagartig hört er auf, putzige Liedchen wie "The Laughing Gnome" zu schreiben und bastelt sich bald darauf seine eigenen "Space Oddity". Der Song "White Light/White Heat" ist jahrelang wichtiger Bestandteil in der Setlist von David Bowie. 1971 revanchiert sich der Londoner mit der VU-Hommage "Queen Bitch", um nur wenig später eine lebenslange Freundschaft mit Reed einzugehen, die in der Kollaboration für Lous Album "Transformer" auch ihren musikalischen Ausdruck fand.
Doch nicht nur für den Thin White Duke wird diese Platte zum Geburtshelfer. Nahezu jedes neu aufkommende Genre beruft sich auf die krachige Seite des Albums als Urknall. Das Höllenlied "I Heard Her Call My Name" nimmt den Punk vorweg. Von Postpunk (Suicide, Joy Division) über EBM (Krupps) oder Industrial (Throbbing Gristle, Cabaret Voltaire) bis hin zu Extremmetal (Metallica) wirken VU als Keimzelle und Katalysator nachfolgender Musik-Dekaden. Sogar die Grunge-Könige Nirvana berufen sich mit einem Cover von "Here She Comes Now" auf die Pioniere.
Die vorliegende Edition wartet diesbezüglich mit ein paar besonderen Schmankerln auf. "The Gift" etwa - eine von Reed verfasste, herrlich makabre Short Story - gibt es erstmals auch mit dem Gimmick einer jeweils reinen Instrumental- bzw. Vocalversion. Bei der einen kann man ungestört Cales angenehm walisisch eingefärbter Rezitation folgen. In der Variante gibt es den perfekt durch- choreographierten Proto-Noise aus dessen Ei Combos wie White Stripes oder Jon Spencer's Blues Explosion schlüpften. Sogar die Urversion - einen improvisierten Noiseblues namens "Booker T" - findet man als Nugget im Boxset.
Das vorzügliche "Hey, Mr Rain" gibt es in zwei unterschiedlich aggressiven Versionen und zersplattert Country in blutige Fetzen. Klarer Diamant unter all den Perlen ist und bleibt dennoch das knapp 20-minütige "Sister Ray". Mit kurzen, heftigen Stößen penetriert Cales Orgel das Lied in einer Tonlage zwischen Kreissäge und Wurzelbehandlung. Dazu ein Rhythmus, der die Powerchords als Muster vorwegnimmt. Inmitten röhrt Reeds Gitarre, die komplett verzerrt dessen noisy Liebe zum Freejazz im Allgemeinen und Größen wie Ornette Coleman oder Don Cherry (der samt Band 1976 Reeds Tour begleiten wird) aufzeigt. Ein Song wie ein Schrei - und dabei voller Einfälle und Details. Ähnlich wie beim artverwandten "Bitches Brew" von Miles Davis entdeckt man auch nach vielen Jahren und zigfachem Hören neue Elemente.
Doch erst der skandalöse, nahezu tarantinoeske Text macht die Velvets gesellschaftlich komplett unmöglich und rocklyrisch unsterblich. "Also, da ist so eine Gruppe Drag Queens samt deren Dealer-Boss Sister Ray, und die schleppen ein paar Matrosen zu sich nach Hause ab, spritzen sich Heroin und veranstalten eine Orgie, als die Polizei aufkreuzt...", so Reed. Und so klingt es dann ja auch. Live dehnen sie den Track gern auf 40 Minuten aus und nachkommende Ikonen wie Joy Division oder die Sisters Of Mercy nehmen ihn zur Hommage in die eigene Setlist auf.
John Cale, dessen experimentierfreudiger Anteil an "White Light/White Heat" gar nicht hoch genug einzuschätzen ist, verlässt kurz darauf die Band. Stimmung und rohe Energie des Albums nimmt er mit, um als Produzent des Stooges-Debüts eine ähnliche Vorbildrolle für Iggy Pop einzunehmen, wie Reed für Bowie. Doch wie oft beide auch mit anderen Musikern kollaborierten: Den einmaligen Kernschmelzelevel dieser Yin-und-Yang-Paarung, der mit "White Light/White Heat" seinen Höhepunkt fand, sollten beide so nicht wieder erreichen. Das Album mit dem schwarzen Cover bleibt der ewige, gemeinsame Monolith.
4 Kommentare mit 7 Antworten
wie, kein Meilenstein???
die haben halt zwei. den anderen gibt es hier:
http://www.laut.de/The-Velvet-Underground/…
Wie wäre es eigentlich mal mit einem Nico-Album als Meilenstein? Viele ihrer Sachen gehen auch sehr unter die Haut, finde ich.
Das tun Zecken auch.
da rennst du bei mir offene türen ein. allein schon der "marble index" wäre es wert. ob das nach der vu bananaplatte und transformer von reed allerdings für nen meilenstein intern mehrheitsfähig beurteilt wird, wage ich zu bezweifeln.
Marble Index +1
Apropos Nico! Das geht unter die Haut wie eine Heroin Spritze!
und zecken bleiben immer übertage
Ok, ich merke schon, dass ich habe mich unglücklich ausgedrückt habe, Marble Index ist trotzdem eine gute Idee für einen Meilenstein
Ulf hat Zerbersten geschrieben. Dauert nicht mehr lange, bis er mit ner riesigen Uhr um den Hals im Lowrider über den Deich cruist.
Album hab ich aufm Schirm. Kenne davon bisher nur Sister Ray, wozu man eigentlich keine großen Worte mehr verlieren muss. Blaupause für alles.
"zerbersten" und "zernichten" fand ich schon immer toll als worte. ich meine mich zu erinnern, das aus schillers "die räuber" von der figur franz moor zu haben. das war ca 1990. so alt ist garrett doch noch gar nicht.
deichcruisen wär auch super. natürlich ohne pussy-führerschein.
.....aber so ne fette uhr steht mir gar nicht. essei denn, es wäre ne gothwatch