laut.de-Kritik
Inventur mit Fokus aufs Wesentliche.
Review von Philipp KauseIntrovertiert zu sein, sich mit sich selbst zu beschäftigen, erweckt Außenstehenden gegenüber oft den Anschein eines entbehrungsreichen Lebensstils voller Hemmungen. Wer nachdenkt, verpasse demnach das 'wahre' Leben. Nun, Brandi Carlile reicht es trotzdem aus, das Socializing nach einer manischen alles-was-sie-im-Lockdown-verpasst-hatte-Aufholjagd freiwillig zurück zu fahren und in sich selber hinein zu horchen.
Alleine sein ist ihr eine Herausforderung, "Returning To Myself" dient ihr als Bestandsaufnahme der eigenen Seele und Situation. Sie stellt sich dieser Challenge. Der Luxus einer Künstlerin ist es, die Inventur des eigenen Privatlebens mit einer breiten Öffentlichkeit zu teilen, und um das guten Gewissens tun zu können, konsequent an einer schönen Verpackung der kristallklaren Essenz des Nachdenkens zu basteln.
Der Singer/Songwriterin und Klavierspielerin aus dem ländlichen Raum des Staates Washington gelingt das textlich, kompositorisch und stimmlich. Eine große Überraschung ist das nicht: Wer sie kennt und um ihre erlebnisreiche Biographie, ihren Stellenwert für die LGBTQ-Community und um ihren gesunden Perfektionismus weiß, rechnet mit einer guten Ausbeute. Es schob sich nun aber ein gemeinsames Album mit Elton John in ihren LP-Katalog, und das verkaufte sich zwar vortrefflich - Platz zwei im Frühling, sogar eins in der Schweiz -, zeigte aber eine durchwachsene Songqualität, Performance und Abmischung. Mir wirkte es bei aller Sympathie für die beiden, Brandi und Elton, schrill, überladen.
Dass Songs entsprechend in einem Musical mit schauspielerischer Aktion womöglich etwas hermachen würden und auf Platte nicht funktionieren, einfach 'too much' sind, wiederholt sich als Phänomen bei einer Nummer auf "Returning To Myself", und das zeigt: An Elton alleine lag es auf "Who Believes In Angels?" also nicht: "Human" heißt der neue aufgebrezelte Track, lässt sich schwer entschlüsseln, gerät lärmig, überfrachtet und durcheinander. Als Rausschmeißer eines Film-Scores könnte der Titel durchaus noch Karriere machen, jedoch verwirrt das Stück auf der LP in einem ansonsten reichlich ruhigen Umfeld voller Balladen. Mal gestalten diese sich zerbrechlicher, wie das Titelstück, mal schwungvoller, wie "No One Knows Us" dank Drive an den Drums und smarten Classic Rock-Stilmitteln.
Die Künstlerin habe sich gleichermaßen von ihrer Sozialisation mit Seattle-Grunge und ihrer Vorliebe für Americana treiben lassen, las man im Vorfeld zwischen den Zeilen in einem Interview, das sie dem US-Rolling Stone gab. Grunge hat ja mehr mit Weltschmerz und Fucked-up-Feeling zu tun, das lässt sich tatsächlich weniger herauslesen. Im Vordergrund steht das Vermeiden einer Midlife-Crisis, Brandis mental und körperlich fittes Durchstarten in ihre mittleren Vierziger.
Stilistisch liegt in der Tat kein pures Americana-Album. "Church And State" klingt eher wie die Talking Heads mit der Gesangstechnik Pat Benatars im Unterton, wirkt wie Carliles Antwort auf Sophisticated 80er-New Wave, mit je einer Prise Post-Punk und Hardrock versetzt. Und das Lied startet mit einer so tollen ersten Strophe, poetisch gesehen, dass man sie einmal nachlesen muss: "While the empire was failing / I was so far from home. / I heard a thousand sirens wailing / so I was never on my own. / And when the blackness slowly parted / I saw the ivory towers / before the revolution started / between the madness of the hours." Diese Zeilen entstammen der US-Wahlnacht vom November 2024, wenden sich gegen die Strömung der radikalen Evangelikalen.
Eine große Bedeutung kommt bei Brandi immer wieder Joni Mitchell zu. Da ist die Relation so ähnlich wie bei Jonathan Richman zu Ray Davies, bei Elton John zu Laura Nyro, die Referenz schwingt gerne ganz bewusst und transparent mit, nur dass Brandi ihr Idol sogar selber schon als Produzentin begleiten durfte. Der Song "Joni" zeichnet im Text ein Charakterporträt der älteren Kollegin und Maßstäbe setzenden Folkgitarristin. Brandi nutzt präzise, teils subtil ironisch überzeichnete Beschreibungen, so wie Joni das in den Siebzigern selbst gerne in Lyrics tat, die Tonalität ähnelt stark: "Sipping champagne - she's a wild woman" usw. Derweil stellt der Song mehr den Kipppunkt zum Country auf der Platte dar und ist gerade kein Folk oder Folksoul à la Mitchell. Country scheint außerdem in "A War With Time" durch. Die tänzelnde, flowende Ballade bewegt sich schwerelos und elastisch vorwärts, glänzt mit wunderschönen Harmonien.
Weniger Nashville-unterfüttert verhält es sich beim Melodiezauber von "Anniversary". Hier kommt die Joni-Adeptin in musikalischer Reinform zum Vorschein. Die Frucht von allem, was Brandi aus dem Katalog der Kanadierin gehört haben mag, erblüht in Gestalt einer akustischen Chamber-Folkpop-Perle.
"A Long Goodbye" wartet orgelgestützt mit Edie Brickell-Vibe auf und dürfte auch Springsteen-verwöhnten Ohren schmeicheln. Wenn Brandi mit ihrer Stimme hier ein Bild malt, ist Indigoblau wohl die dominierende Farbe, und es gibt viele warme Schattierungen. Schlicht und schön, mit der Akustikgitarre als tragendem Instrument und mit gebrochener Stimme, reflektiert "You Without Me" in einfachen, alltäglichen Worten über Partnerschafts-(Dys-)Balance.
"A Woman Oversees" betritt nach einem zarten Akustik-Intro bald Gospel-Terrain und balanciert zwischen amerikanisiertem Schmalz und Keyboard-sattem Soft Soul nach Art Roberta Flacks und mit Stevie Wonder im Hinterkopf. Carlile begab sich selbst an die Fender Rhodes-Tasten, bettet ihre Charakterzeichnung in glanzvolle Harmonien und legt im Text den Wert der 'compassion', des Mitgefühls, dar. Stark vorgetragen, mit mehrschichtiger Replik ihrer Stimme als Background-Chor, inszeniert sich Brandi wirkungsvoll, alleine mit sich selbst, intim, doch zugleich raumfüllend.
"Returning To Myself" entstand mit Justin Vernon (Bon Iver, yMusic) in Background-Gesang und Ko-Produktion. Ferner beteiligten sich Aaron Dessner (The National, Taylor Swift), als Multiinstrumentalist, Autor, Inspirationsquelle, angenehm unaufgeregter Arbeitspartner, sowie Andrew Watt. Letzterer stellt sich immer mehr als einflussreicher Producer der 2020er heraus. Brandi nennt ihn im Rolling Stone "mutig und chaotisch". Miley Cyrus, Ozzy Osbourne, Eddie Vedder, Iggy Pop, die Rolling Stones auf "Hackney Diamonds", Lady Gaga auf "Mayhem" und Brandi Carlile auf ihrer LP mit Elton hatten in den letzten Jahren bereits das Vergnügen.
Viel hineinreden durfte Andrew bei "Returning To Myself" wohl nicht. Der Longplayer ist schlicht geblieben, mit Fokus aufs Wesentliche, Gesang, einige Hauptinstrumente, die Melodien, und es unterlegt gerade den Herbst vortrefflich als Soundtrack für Stunden, in denen man es sich mit einer kuscheligen Decke gemütlich macht oder durch Regen und Sturm stapft. Brandi Carlile hat einen dynamischen Ruhepol geschaffen, ein Balladen-Album, das immer in Bewegung bleibt.


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