laut.de-Kritik

Lebenslustige Songsammlung mit melancholischen Zwischentönen.

Review von

Alicias Konzerte elektrisieren. Ein Live-Album wäre naheliegend. Das neue "Keys" ist trotzdem keines. Das achte Studioalbum der 40-Jährigen spielt gleichwohl mit dem Variantenreichtum, dass ein Lied mal so und dann doch wieder anders klingen kann. Von fast jedem Stück liefert die R'n'B-Songstress zwei Versionen. "Keys" folgt dicht auf den viermal verschobenen Vorgänger "Alicia", dessen schöne Ideen in ihrer sterilisierenden Umsetzung ein bisschen gebremst wurden und auf mehr Wagemut hoffen ließen.

Während die Ausnahme-Pianistin auf jener CD 2020 in der Bubble ihres Produktions-Teams oder im Rausch ihrer viel beschworenen Self Love übersah, dass ihre eigentlich sehr persönliche private Note sich eher der anglophonen Hörerschaft vermittelte, und zwar erst dann, wenn man jede Textnuance muttersprachlich erfasste, ist "Keys" erfrischend anders. Jetzt liegt der Fokus viel mehr auf emotional packenden Melodien und Sounddesigns. Die berückend klare Stimme und das für die Italo-New Yorkerin markante Klavier rücken in den Fokus der Aufmerksamkeit: Der Titelsong "Keys" ist sogar ein Tasten-Instrumental. Die Musik war zuletzt glatter geworden, angepasst ans Spotify-Biotop, getragen von diversen Feature-Guests. Konträr zum Nahbaren, das so typisch für die Entertainerin ist, verwässerten zig Co-Producer letztes Jahr die Handschrift. "Keys" dagegen packt einen schnell.

Und funktioniert auch im Shuffle-Modus: Je nach Track-Folge erlebt man Songs dann doppelt, mal als sogenanntes 'Original' oder 'Unlocked'. Man folgt einer Reise von Gospel über Jazz zu Folk (in "Daffodils") und Hip Hop. Oder man wird in clubbigen R'n'B hineingesogen und spürt mit Sprüngen zwischen allerlei Klangfarben und Genres, dass das Album eine deutlich besinnliche Seite pflegt.

In Alicias Produkte-Kosmos dreht sich viel um (weibliche) Identität und ganzheitliches Wohlbefinden. Ihr eigenes Kosmetik-Produktbündel nennt sie 'Soulcare'. Außerdem wird eine Superheldin namens Lolo in einem geplanten Comic-Buch Brooklyn rocken. In Alicias Autobiographie "More Myself" lässt sich bereits nach wenigen Seiten spüren, dass der Soundtrack zu ihrem noch recht jungen Leben sicher thrillful klänge und sie offenbar weit mehr Kontraste erlebt hat als andere Artists in ihrem Alter. Sie legt offen, wie sie mit elf in die Arbeitswelt einstieg, mit einem Babysitterclub.

Sie beschreibt ihre allmähliche Bewusstwerdung ihrer eigenen Hautfarbe anhand von Alltagsszenen und erzählt es so, als wäre alles vor ein paar Stunden passiert. Da ähneln sich Druckwerk und Platte. Genaue Beobachterin, die Keys ist, holt sie in beiden Formaten viele Details auf eine abstrakte Ebene. Im Buch hüpft sie zwischen dem staunenden Blick des Mädchens damals, ihrer Reflexionsebene und der Neubewertung heute hin und her.

Genau so fühlt sich "Keys" an: wie ein stetiger, konzentrierter Pendelschlag zwischen verschiedenen perspektivischen Nuancen (siehe die Versionen-Dopplung) und Kapiteln des Lebens, die tief im Inneren schlummern. Die Doppel-CD, die zum VÖ-Zeitpunkt nur im Stream vorliegt, ist eine lebenslustige Songsammlung mit melancholischen Zwischentönen.

Die melodiösen Tunes zeichnen akustisch Selbstdefinition, Selbstliebe und "Selbstschutzinstinkt" (Keyword von Keys). In anderen Formaten lässt sich so etwas womöglich direkter und emotionaler ausdrücken - also etwa dann, wenn sie ein dokumentarisches Buch schreibt, fiktionale Comicfiguren designt, Make-Up-Farben mischt, Duft kredenzt etcetera.

Musik in Alicias 'Hitmosphäre' muss formal engeren Regeln gehorchen, dafür wirkt "Keys" überraschend frei und sympathisch natürlich. Von den musikalischen Begleiter*innen ihres Lebens greift die Soulerin zum Beispiel Bill Withers und Nat King Cole im selben Track auf, ehrt im Text den legendären Easy Going-Crooner "Nat King Cole" als unvergesslich, arbeitet mit einem dominanten Geigen-Motiv, sampelt unterschwellig die geniale Melodie von Withers' "Lovely Day" ohne, dass dies offensichtlich würde, und bürstet das Zitat gegen sich selbst. In "Nat King Cole (Unlocked)" ringen eine Drum Machine und Scratch-Effekte um rhythmische Strukturierung und Führung.

Geschickt baut die Sängerin ein paar Rap Lines von Lil Wayne ein. Bezüge zur Entertainment-Industrie der 1940er, zur großen Soul-Ära der frühen '70er und zum Hip Hop/Urban-Umfeld fließen somit glaubwürdig in einen Pott. Alicia verkörpert ja wirklich alles ein bisschen. Bei "Plentiful (ft Pusha)" scheint sie sich an ihre "Underdog"-Remix-Kollabo mit Protoje und Chronixx zu erinnern und lässt nach einem wunderschönen Intro am Flügel postmodern Rap in die barocke Stimmung knallen, den sie wiederum mit einem repetitiven Orgelton in One Drop-Reggae-Rhythmus kontrastiert.

Die brillante Phrasierung im Gesang mancher Stücke wie in "Is It Insane" erinnert stark an Anita Baker und damit schon an Jazz-R'n'B. "Old Memories" pflegt die ein oder andere klaviertechnische, gesangliche und rhythmische Parallele zu "(You Make Me Feel Like) A Natural Woman" (Carole King, Aretha Franklin). "Only You" kreuzt die Storytelling-Technik Carole Kings voll souljazzigen Pedal-Spiels am Klavier mit Slash-artigem Gitarrenspiel und 90er-Popsoul im Stile von Whitney und Mariah.

Wie verschieden sich Songs darstellen können, wenn sie super sind, zeigt die zweite Fassung "Only You (Unlocked)", die weitaus mehr an sophisticated Electroswing-Funk-Hop-Clubsounds von De-Phazz oder Moloko denken lässt. "Skydive" setzt die einstige Serie der Groove-gesättigten Hit-Singles ("If I Ain't Got You", "Empire State Of Mind", "Superwoman") recht electro-affin fort. Gerade hier lassen sich zwischen den beiden dargebotenen Fassungen nur unterm Mikroskop unterschiedliche Nuancen wahrnehmen.

Dennoch lässt das intelligente Konzept viel Freiheit, wenn sie eben nicht versucht, die finale Version in Stein zu meißeln. In "Love When You Call My Name (Unlocked)" entsteht durch die Remix-artige Verwaschenheit der zweiten Fassung eine harte Abgrenzung und ein geistreicher Verfremdungseffekt gegenüber der 'Original'-Edit. In der elektronisch gestylten 'Unlocked'-Variante fällt das analoge Klavier viel mehr auf. Sollte es auch, um authentisch zu sein. "Chopin war mein Homie", notiert Keys in ihrem Lebenslauf.

Ein weiteres schönes Versionen-Zwillingspaar: Der "Dead End Road (Unlocked)"-Mix verleiht der Pendant-Nummer dank mehr Jojo-Beat und Keyboard-Loops etwas Sportlicheres und zugleich Mysteriöseres, als das dem Gospel-nahen 'Original' innewohnen würde.

Diese Platte ist das Projekt einer Liebhaberin, weit weg von einem Vertragserfüllungs-Routinealbum. Der Zeitpunkt vor Weihnachten mag irritieren, doch behauptet "Keys" trotz kraftstrotzender neuer Hits wie "Only You", "Dead End Road" und "Nat King Cole" kaum kommerziellen Anspruch. Dafür passt die Stimmung des Albums mit sakralen Ansätzen gut zur Adventszeit.

Die durchdringenden, wummernden Bässe provozieren zum Teil, die ätherische Erhabenheit mancher anderen Momente passt hingegen nicht ganz dazu. Dass aufs Homogenisieren verzichtet wurde, macht die Platte stark, lässt sie intuitiv statt strategisch erscheinen und ist ihr 'Unique Selling Point' – ich ranke sie auf Platz 4 unter den acht Longplayern von Brooklyns bestem Soul-Export. Wie gelungen die Teilzeit-Kosmetikerin im Sauseschritt durch ihre Wellness-Playlist groovt, und progressives Tempo mit einer innehaltenden Grundeinstellung verdrahtet, das alles kommt sehr souverän, flüssig und zeitlos rüber und findet man so nur bei Alicia.

Trackliste

CD1

  1. 1. Plentiful (ft Pusha)
  2. 2. Skydive
  3. 3. Best Of Me
  4. 4. Dead End Road
  5. 5. Is It Insane
  6. 6. Billions
  7. 7. Love When You Call My Name
  8. 8. Only You
  9. 9. Daffodils
  10. 10. Old Memories
  11. 11. Nat King Cole
  12. 12. Paper Flowers (ft Brandi Carlile)
  13. 13. Like Water
  14. 14. Keys

CD2

  1. 1. Only You (Unlocked)
  2. 2. Skydive (Unlocked)
  3. 3. Best Of Me (Unlocked)
  4. 4. Lala (ft Swae Lee)
  5. 5. Nat King Cole ft Lil Wayne (Unlocked)
  6. 6. Is It Insane (Unlocked)
  7. 7. Come For Me
  8. 8. Old Memories (Unlocked)
  9. 9. Dead End Road (Unlocked)
  10. 10. Love When You Call My Name (Unlocked)
  11. 11. Daffodils (Unlocked)
  12. 12. Billions (Unlocked)

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8 Kommentare mit 18 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    GÖTTIN ALLA!!! GROWUNG EINGELEITET!!!

  • Vor 2 Jahren

    Jetzt mal ernsthaft: Ist sie auch eine gute Pianistin, wir die Rezi behauptet? Kenne nur die Handvoll Songs, die mal charteten und ab und zu im Autoradio laufen. Da begleitet sie am Piano größtenteils akkordisch, wie man es nach ein-zwei Jährchen Pop-Klavierunterricht eben so tut.

    • Vor 2 Jahren

      Oha what the fuck!? :D Dann kennst du sie schlecht. Sie ist eine großartige Pianistin, da hast du dir scheinbar echt die falschen Songs rausgepickt.
      Das sagt aber nix über die Qualität des Albums aus. Alicia ist als Künstlerin mittlerweile ne absolute Nullnummer und diese wie auch andere Kritiken sind offensichtlich mit viel Geld erkauft, da diesen Rotz sonst niemand mehr kaufen würde. Ihr Klavierspiel ist mittlerweile das einzige das sich gut anhören lässt, immerhin ist ihr das geblieben. Als Sängerin, Komponisten und Produzentin aber existiert sie quasi gar nicht mehr.

    • Vor 2 Jahren

      Hab halt darüber hinaus nie was von ihr gehört oder sie live gesehen. Dachte immer, die akkordet nur. Dann bin ich erst mal eines Besseren belehrt.

    • Vor 2 Jahren

      Spielt sie eigentlich auch Klarinette?

    • Vor 2 Jahren

      Ja, mit ihrer Rosette.

    • Vor 2 Jahren

      "Dachte immer, die akkordet nur."

      Nun... Wenn Du aus den 2 Hitgenres für's Piano nur Leute wie Brubeck, Gould, Horowitz oder gleich noch Rachmaninoff (oder Grimaud, Montero, Argerich wer hier evtl. noch die XX-Vergleichsbasis braucht...) als oberes Limit annehmen möchtest ist sie vielleicht doch näher an "Pianostudium mit Bachelor an der Popakademie Mannheim" als an deren Finesse und eigenem Stil im Spiel.

      Betrachtet mensch die Gruppe "Popmusiker*innen, die in ihrer Mucke/Karriere (durchweg) auch ein Instrument (live) selber bespielen und darauf daheim sogar ihren Shit selbst komponieren" für sich, dann ist sie ganz sicher nicht nur für das Genre "poppiger oder modern black RnB" innerhalb international vermarktbarer Musik ziemlic einsame Ausreißerin nach oben...

    • Vor 2 Jahren

      Das ist für mich eigentlich das Minimum. War auch gezielt kein Diss gegen die Keys. "Nur" Begleitakkorde wollen ebenso gefühlvoll gespielt werden wie Werke aus der neuromantischen Phase der "klassischen Musik". Hab mich nur gewundert, wie lobend ihr Klavierspiel in der Rezi erwähnt wurde.