laut.de-Kritik

An der Pforte zur Zauberwelt.

Review von

The Moody Blues aus Birmingham waren kurze Zeit das, was ihr Name versprach: Eine Rhythm-and-Blues-Band. Ähnlich wie ihre ebenfalls auf Decca gestarteten Londoner Kollegen The Rolling Stones stecken im bluesigen Milieu zwar ihre Wurzeln. Jedoch entwickelte das Quintett selbst eine Reihe von Genres, Barock-Pop, Symphonic-Rock und Classic Rock in seinem engsten Wortsinn. Gelegentlich rechnet man sie sogar zu den Pionieren von Art und Progressive Rock. Die Moodies waren auf jeden Fall Teil der ersten Welle psychedelischer Gruppen, und sie vertieften sich nach den Kinks und den Beatles dann zeitgleich mit The Who als dritte Band konsequent in die schöne und anspruchsvolle Kunst des Konzeptalbums.

Ihre sechste Platte "A Question Of Balance" war das fünfte Konzeptwerk und hat je eine Kontinuum-A- und B-Seite. Das heißt, die Tracks gehen ohne Pausen ineinander über. Erlauben konnten sie sich dieses rockfremde Vorgehen, weil sie die LP 1970 in Eigenregie auf ihrem Label Threshold veröffentlichten. An einer ähnlichen Idee war ein paar Jahre zuvor Ray Davies am Widerstand einer Plattenfirma gescheitert.

Auch wenn man "A Question Of Balance" viele Hippie-Gedanken anhört, handelt es sich bei den Moodies ausdrücklich nicht um eine der vielen Gelegenheits-Beatniks, die sich in Kaschemmen das Schrammen an der Gitarre beibrachten, losblökten und bald wieder verschwanden, sondern um eine experimentierfreudige Band mit tollen Textern und Kompositionstalenten. Insbesondere, was sie in ihrer produktivsten Phase von 1967 bis 1970 zusammen brauten, ist eine wesentliche Grundlage für Peter Gabriel und Steve Hackett, für Ian Andersons Jethro Tull, für Mercury Rev, Owen Pallett, Cocorosie, und beiläufiger, aber unverkennbar strahlte die Musik der Moodies auch in die Werke von Yes, Styx, Saga, Emerson, Lake and Palmer und Roger Waters aus.

Auf dem hier vorliegenden Karriere-Höhepunkt verhielten sie sich paritätisch. Jeder durfte zwei Mal etwas abliefern. Die Nummern verteilen sich auf verschiedene Lead-Vokalisten. Neben den drei Hauptsängern waren das Keyboarder Mike Pinder und Drummer Graeme Edge. Dabei hatte der Trommler schon beim Einstieg ins Album genug zu tun. Seine schlagkräftigen Aktivitäten spielen jeweils im Klammer bildenden Start- und Schlusstrack "Question" und "The Balance" eine Hauptrolle.

Ein Highlight ist seine Kickdrum-Synkope bei der zentralen "Question", der Frage "Why do we never get an answer, when we're knockin' at this door!?" Bumm, Bumm - (Pause) - bumm. In ähnlicher Weise strukturierte er auch den Text zu "The Balance", eine Art Gedicht mit klassikartiger edler Musik drumherum. Hört man heute Mike Scott und The Waterboys auf "Where The Action Is", lassen sich die Spuren direkt zu Pinders zahlreichen Spoken Word-Einlagen zurück verfolgen. Was gelegentlichen Pomp in den rockigen Momenten des Albums angeht, wies dieser klar den Weg zu den Birminghamer Zeitgenossen des Electric Light Orchestra. Ihnen traten The Moody Blues den stilistischen Pfad zurecht.

Auf "A Question Of Balance" erlebt man die Fünf-Mann-Crew phasenweise von ihrer zarten Seite. So könnte die Sanftmut des "Melancholy Man" kaum besser den Liedtitel treffen. "I'm a melancholy man, that's what I am", seufzt Ray Thomas voller Weltschmerz. Er war - unter anderem - Flötist der Band. Bei der Tantiemenabrechnung durften die Indie-Selfmade-Musiker überrascht gewesen sein - das zerbrechlich gesungene Stück erreichte Platz Eins in Frankreich. Dagegen pusht der Opener "Question" voller Nachdruck, wozu auch Justin Haywards fordernder Gesang einiges beiträgt.

Die Sorge um den Zustand der Erde beschäftigte die Bandmitglieder, die gerade Kinder in die Welt gesetzt hatten. Ihre häusliche Situation, ihr Alltag, und die philosophischen Kernfragen, die sie sich stellten, rückten in den Mittelpunkt ihrer Suche nach Balance. Die Anfangsfrage "Why do we never get an answer, when we're knockin' at this door? / with a thousand million questions about hate and death and war?" spielt auf den Vietnamkrieg an. Im Rückblick ist dieser Kontext schwieriger zu erkennen als 1970, allerdings erklärt dieser Bezug den enormen Erfolg des Songs und des Albums in den Vereinigten Staaten.

Während der Bridge-Part eine andere Ebene einzieht und sich mehr wie ein Beziehungslied anfühlt ("it's not the way, that you say it, when you do those things to me / it's more the way that you mean it"), ist der Bruch ungewöhnlich, hat aber eine triviale Ursache. Die Band fusionierte spontan zwei unfertige Titel, um nicht mit leeren Händen gebuchte Studiozeit zu verplempern, und die Plattenfirma merkte es nicht. Restlos logisch erklären lässt sich sowieso keiner der zehn Songs im Detail. Viele Zeilen sind so allgemeingültig und abstrakt formuliert, dass sie auf viele Situationen und Umstände passen.

"Men's mighty mine-machines digging in the ground / stealing rare minerals where they can be found" enthält nicht nur Süffisanz und eine starke Alliteration, sondern bespielt das Umweltthema. 1970 herrscht zwar noch keine Ölkrise. In belesenen Kreisen wächst aber bereits das Bewusstsein dafür, dass fossile Gesteine und Energieträger über Millionen Jahre entstanden, vom Menschen aber binnen hundert Jahren zu einem Großteil geplündert, verheizt, weiter verarbeitet, aufgebraucht wurden. Ein Aufreger ist dabei der Fall Fort Knox, der den Song inspiriert. Neben der Anti-Kriegs-Haltung hält auch das Thema Nachhaltigkeit bei den Moodies Einzug, hier in "How Is It (We Are Here)".

Auffallend in der Umsetzung der Stücke ist die Wir-Perspektive. "A Question Of Balance" ist eine Chor-Platte. Fast alle Tracks enthalten unglaubliche Chor-Arrangements. "The Balance" schichtet die exzellenten Harmoniegesänge über einen gesprochenen Gedichtvortrag. Die Wahl der Worte in Verbindung mit dem Wechselspiel aus Rede, choraler Antwort und Einsatz der Instrumente verblüfft mich bis heute, obwohl ich diese LP bestimmt hunderte Male gehört habe.

Das Setting startet mit einer Szene im Stile der biblischen Schöpfungsgeschichte. Anstelle des Adamsapfels taucht eine süße Orange auf. Der zweite große Textblock enthält eine Aufzählung, und das Mellotron, ein Lieblingsinstrument des Quintetts, hat für jedes aufgezählte Element einen verqueren Laut übrig: "And the stars / and the veins in the leaf / And the light / and the balance". Man spürt im Sound, wie die Sterne funkeln, das Licht strahlt etc. "Compassion" ist die Empathie, das Mitgefühl, darauf will das Lied und letztendlich die LP hinaus. In unserer Zeit, da viele sich autistisch in ihren Smartphones vergraben, wirkt das wie ein aktueller Kommentar.

The Moody Blues kamen gerade von ihrem Konzeptalbum über die Mondlandung, als sie "A Question Of Balance" angingen. "Who's the biggest fool of all? Bet, you feel small - it happens to us all", reimt Schlagzeuger Graeme Edge in "Don't You Feel Small" voller Galgenhumor. Sie waren die ersten mit der Flöte, die im Sound-Gebräu immer wieder hervorsticht. Auf dieser Platte tut sie das etwa in kontra-harmonischer Freejazz-Manier in "Don't You Feel Small", wirkt sogar verstimmt, der Gesamtklang phasenweise kakophonisch, passend zum provokanten Text. Auch in "Dawning Is The Day" erscheint die Flöte ganz markant, wo luftiger Folkpop eine Atmosphäre wie in "Aquarius" vom "Hair"-Musical erzeugt.

Pinder hatte sogar mit der Herstellung des Mellotrons zu tun, dem Standardinstrument im Psychedelic Rock: "Daran arbeitete ich in der Manufaktur", erinnert er sich im Magazin Goldmine. Er war gerade aus Deutschland vom Wehrdienst nach England zurück gekehrt. "Ich sah diese Stellenanzeige, jemand suchte eine Person mit musikalischer Erfahrung und Ideen in der Mechanik. Ich wurde der Typ, der die Magnetspulen einsetzte. Sie mussten von Hand eingezogen werden, damit sicher gestellt war, dass sie, wenn du die Note anspielst, korrekt zum Anfang dieses Tons zurückspulen. Das Stimmen und Testen gehörte zu meinem Job. Allen ausgelieferten Geräten hatte ich meinen Stempel aufgedrückt. Ich erzählte den Beatles davon (...) und sie begannen es zu nutzen. Das war ein Wow-Effekt. Am meisten bin ich stolz darauf, dass ich ein Faktor in ihrer Musik war." So gut wie Pinder das Innenleben des Mellotrons kannte, war sein eigener Gebrauch des Geräts, etwa in "Don't You Feel Small" ab Minute 1:28.

Während Progressive Rock alsbald die E-Gitarre in den Mittelpunkt stellte (siehe David Gilmour), ist Hayward in erster Linie ein brillanter Akustikgitarrist. In einer Orchester-Version von "Question" sieht man, wie er sich mit seinem einzelnen Holz- und Nylon-Werkzeug gegen ein Symphonie-Ensemble und gegen eine imposante Schlagzeug-Dramaturgie durchsetzt und wie dieses einzigartige Arrangement die Instrumente wie Figuren eines Theaterdialogs aufeinander antworten lässt. "Question" ist wie Ravels "Bolero" - Pflicht. Jeder Musik-Freak und jede Liebhaberin sollte sich sieben Minuten Zeit nehmen, um die Magie dieses Stückes auf sich wirken zu lassen.

Zu den Burnern zählt das anmutige "And The Tide Rushes In", wenn Ray Thomas mit Tremolo und einem Timbre im Stile Neil Diamonds vorträgt. Überwältigend geraten ist der Chorus von "The Balance" mit der schönen Hookline "Just open your eyes and realize / the way it's always been." "Melancholy Man" ist einer der am besten gesungenen Softrock-Tunes mit einer simplen Chromatik-Struktur in der Melodie. Es geht um Schwermut auf verschiedenen Ebenen, darunter den Weltschmerz.

The Moody Blues offenbaren hier verschiedene Blickwinkel auf den Zustand der Menschheit und der Erde und beziehen fast alle großen Themen ein, aus denen später hierzulande die Grünen-Bewegung wurde (Pazifismus, Umwelt- und Klimaschutz, Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit). Anknüpfend an frühere LP-Titel wie "On The Threshold Of A Dream" (an der Schwelle zum Traum) oder "The Magnificent Moodies" kann man "A Question Of Balance" als Pforte zu einer Zauberwelt, einem geheilten Planeten betrachten, und so war das Album nach den Worten des Keyboarders auch gemeint.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Question
  2. 2. How Is It (We Are Here)
  3. 3. And The Tide Rushes In
  4. 4. Don't You Feel Small
  5. 5. Tortoise And The Hare
  6. 6. It's Up To You
  7. 7. Minstrel's Song
  8. 8. Dawning Is The Day
  9. 9. Melancholy Man
  10. 10. The Balance

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