laut.de-Kritik

Großartige Soul-Momente und ein Paul-McCartney-Cover.

Review von

Die Glitzerwelt des R'n'B ist eine vergängliche, seltsame und undankbare. Stellen wir uns vor, die Stones, Ringo oder Paul McCartney würden heute die Nasen vor den Türen der großen Plattenfirmen zugeschlagen bekommen - undenkbar. Dabei ist deren Durchbruch doppelt so lange her wie der von Mariah Carey. Man kann man die 56-Jährige durchaus in einer Liga mit Rolling Stones und Beatles rechnen. Sie spielt zwar kein Instrument, von rudimentären Klavier-Grundkenntnissen abgesehen, kann aber fünf Oktaven singen. Sie gilt als bestverkaufende Sängerin der Welt, seit sie ihre Karriere begann, laut Nielsen, quasi der US-GfK. Carey wird gar vom Altherren-Rock-Magazin Rolling Stone als fünftbeste Sängerin der Welt geführt. Der Verband der amerikanischen Plattenindustrie rechnet vor, sie sei die kommerziell zehnterfolgreichste Person, die in den USA (jemals) Alben und Singles verkauft hat.

Auf "Here For It All" schlägt Carey nun tatsächlich die Brücke zu McCartney. Ihr Cover "My Love" fügt sich grundsätzlich gut in die Retro-Neigung des gesamten Albums ein. Wir bleiben trotzdem gerne beim Original der Wings. Immerhin muss man Mariah attestieren, dass sie das Lied ins Bewusstsein zurück holt. Allerdings hat dieser Softrock-Tune mit seinem souligen Unterton schon wirklich viele Coverversionen über sich ergehen lassen müssen, ob nun Tony Bennett mit Streichorchester oder Corinne Bailey Rae in reduzierterem, beinahe Unplugged-Rahmen. Mariah steigert sich stimmgewaltig hinein. Trotzdem besitzt eine andere, nämlich Chers Version in röhrender Tonlage mehr echtes Feeling, mutet weniger affektiert an und mehr auf Augenhöhe mit den Hörer:innen. Da kommt sie wieder zum Vorschein, die Glitzerwelt, die Carey manchmal auch im Wege steht, wenn Interpretationen ihr allzu großmächtig 'hollywoodesque' geraten.

Mit Brandy, En Vogue, Mary J. Blige und vielen anderen namhaften Urban-Chartbreakern der 90er teilt sie das Schicksal, heute kaum einfach auf frühere Glanztaten verweisen zu können - diese reichen nicht mehr. Als Label, um überhaupt Budget zu haben, schnappte sich ein Ex-Apple-Manager die Künstlerin. Der Aussteiger gründete das Start-Up Gamma im Jahr 2023 und verpflichtete bereits Usher, baute die Karriere von Sexyy Red mit auf. Rick Ross kündigt an, bei Gamma 2026 zu veröffentlichen und French Montana ist dort gesignt. Mariah Carey ist also in guter Gesellschaft und das mit einer Platte, die verschiedene Winkel der Rhythm-and-Blues-Welt auslotet und die prägnanten Vocals durch Ruhiges und Vehementes, Skizzenhaftes und Perfektes durchdekliniert. Die Künstlerin hat das Resultat vollständig zu verantworten, steht doch ihr Name bei allen Tracks als Co-Producerin in den Credits.

Diese neue Wohlfühl-Platte "Here For It All" hat aber doch gleichzeitig etwas Banales und wenig Aussagekräftiges, sicher nichts Mutiges, um dem Verkaufs-PR-Text zu widersprechen. Man gleitet beim Hören manchmal ab wie Rührei von einer Teflonpfanne, hinterher trennt man sich rückstandsfrei voneinander. Die Harmonien klingen alle sehr anschmiegsam und cheesy. Zusammen mit einem textlichen Element wie dem Glauben daran, alles schaffen zu können, auch zu fliegen, "cause I dream a greater dream / fight a greater fight (...) nothing is impossible at all", erweckt der Sound einen Effekt wie Blockbuster-Kino: "Nothing Is Impossible". Man wird mal in eine andere Welt abgeholt, eigentlich genau diese Glitter- and Glamour-Abteilung, von der Mariah fallen gelassen wurde, in den Kosmos aus "Confetti And Champagne". Das nachdenkliche und sphärische Stück gleichen Namens hätte mehr als dürftigen Synth-Nebel mit sporadisch übersteuerten Bässen und einem feigen Fade-Out verdient. Immerhin schwingt sich Mariah stimmlich hier zu ihren höchsten Höhen auf. So verpufft die kehlkopfakrobatische Glanzleistung in einer unentschlossenen Verpackung.

Auf der anderen Seite, wo die Party wieder Fahrt aufnimmt und die Single gewordene Frau von Welt die Loslösung von einem Narzissten auf Disco>-Funk-Geigen feiert, wird es produktionstechnisch nicht filigraner. Was Mariahs Team unter Funk versteht, gereicht der gesamten weltweiten Disco-Funk-Szene nicht zur Ehre - es sind flache Bässe auf Sprungfeder-Effekten mit ein bisschen Party-Aufgebrezeltheit. "I Won't Allow It" klingt belebt und nach einem Raum voller Leute, aber nicht so, dass man spontan mittanzen möchte. Auch diese Nummer verendet in einem armseligen Fade-Out.

The Clark Sisters sind Gospel-Profis durch und durch, mit beträchtlichem kommerziellen Erfolg in christlichen Kreisen in den USA. 1973 veröffentlichten sie ihr erstes Album, 2020 das letzte und erreichten damit in den Billboard Gospel-Charts den zweiten Platz. Gehe es dir schlecht, stehe dir der Allmächtige bei, spirituelle Musik rette außerdem Leben, besagt "Jesus I Do ft. The Clark Sisters". Interessant und auffällig, dass dieser Track die klarste Dramaturgie auf dem Album aufweist und am meisten 'fetzt'.

Wie bei Carey nicht anders zu erwarten, hätten wir dann die Kategorie Balladen. Im Titel gebenden Opus "Here For It All" von fast sieben Minuten sollte man anerkennen, dass der ganze Release alleine schon deswegen seine Berechtigung hat, weil die Sängerin hier die vollendete Katharsis hinlegt. Dabei verwendet sie einiges, was sich zuvor auf der LP schon abzeichnete, Gospel, Funkiness, die hier besser gelingt, Pop-Glanz und Seventies-Soul. Sie greift auf die Durchtrainiertheit ihrer Stimme zurück und legt sich in der Bandbreite von säuselnd und hauchend über kreischend und japsend bis schmachtend und berstend ins Zeug. Wer in den Neunzigern schon dabei war, wird durchgekaute Muster in den ersten vier Minuten wiedererkennen. Dann mündet der Song in einen scheinbaren Schluss, ein retardierendes Moment. Doch siehe da, genau da bricht er sich erst richtig Bahn, sehr geschmackvoll sogar, als Jazzfunk-Improvisation mit elastischen Schmetter-Drums, die von Robert Glasper stammen könnten. Es trommelt Joshua Foster, vor der Pandemie Tour-Drummer von Snoop Dogg, aktuell in Renée Rapps Band. Am Klavier nimmt Daniel Moore II Platz, seit 2018 der Mann hinter den Akkorden bei Carey. Er begleitet sie lebhaft an den Tasten. Wundervoll!

Argumente in punkto Relevanz und Alter, also ob sie in die heutige Zeit passt, lassen sich schnell entkräften. Mariahs Kids sind 13 und dürften sie über die Welt zwischen TikTok und Trap, Snapchat und Spotify auf dem Laufenden halten. Die Sängerin hat Shenseea auf der Vorab-Single zu Gast. Das Ineinandergreifen der drei Stimmen in "Sugar Sweet ft. Shenseea + Kehlani" läuft super, das Lied hat eine herzerweichende Melodie, bloß leider pladdern die Beats recht hart, stumpf, ohne künstlerischen Mehrwert für die Aussage des Liedes. Sogar DJ Khaled könnte es besser. Mariah lässt sich über ihre Erfahrung beim Verführen aus, "I'm gonna use my expertise".

Mit Anderson .Paak setzt die hauptberufliche Schmusekatze ihre Flirts mit Hip Hop vom Vorgänger "Caution" fort. Das Duett "Play This Song ft. Anderson.Paak" klingt eigentlich wie von einem Weihnachtsalbum. Würde nicht "Mi" diesen Eindruck konterkarieren: Carey gibt sich dort als materialistische "bad bitch", skandiert "Let the money talk first!" und marschiert, völlig den Modetrends der 2020er zuwider laufend, auf Hi-Heels durch die Manege. Restlos großartig hingegen läuft der präzise und wuchtige Northern Soul "In Your Feelings" ins Ohr, der nichts mit dem gleichnamigen Drake-Stück gemeinsam hat. Anderson .Paak ist hier, sowie auf "I Won't Allow It", übrigens Ko-Komponist und Drummer. Bisher ist "In Your Feelings" schon eine der stärksten Soul-Aufnahmen 2025.

Es gibt also großartige Momente auf "Here For It All". Alle Songs halten ein gewisses Level an guter, unterhaltsamer, poppiger und spiritueller Musik. Trotzdem hätte man die Scheibe schlüssiger und weniger als Flickenteppich aus organischen und digitalen Momenten produzieren können. Beim Covern des McCartney-Classics fehlt der Clou, warum gerade Carey die Richtige ist, um uns diese Geschichte vorzusingen. Sie verlässt sich auf ihren blasser gewordenen Namen und auf ihre durchaus gar nicht verblasste Stimme. Damit ist sie immer noch besser als das Gros dessen, was uns aus dem R'n'B-Nachwuchs ereilt, aber einige andere verstehen sich mittlerweile effektiver darauf, das so zu verpacken, dass eine eigene Welt entsteht, in der man sich gerne lange aufhält.

Trackliste

  1. 1. Mi
  2. 2. Play This Song ft. Anderson.Paak
  3. 3. Type Dangerous
  4. 4. Sugar Sweet ft. Shenseea + Kehlani
  5. 5. In Your Feelings
  6. 6. Nothing Is Impossible
  7. 7. Confetti And Champagne
  8. 8. I Won't Allow It
  9. 9. My Love
  10. 10. Jesus I Do ft. The Clark Sisters
  11. 11. Here For It All

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1 Kommentar

  • Vor einem Tag

    Ich besitze ein Album von Mariah Carey: „Emotions“ von 1991 - auf Cassette. Tja, damals konnte ich mich noch für Mariah Carey begeistern, danach einige Jahrzehnte lang nicht. Auf diesem Album kann ich mir sie zumindest wieder anhören. Ein wenig back to the roots.